Kinder des Monsuns
plötzlich, ohne dass ihn jemand gefragt hätte, ein Satz aus ihm hervor, der ihm in der Kehle stecken bleibt: »Ich möchte keine Angst mehr haben«. Da begreift man die Realität der Rattenstadt noch ein bisschen besser.
|209| Ewige Schönheit ist von allen derjenige, der sich das Leben der Unterwelt am wenigsten zueigen gemacht hat. Er kann seine Bitterkeit nicht verbergen. Es kümmert ihn nicht, zu weinen, er tut es oft, er beklagt sich, wenn sein Magen leer ist, und gibt zu, dass er seine Mutter vermisst, an die er sich erinnert, wie sie ihm in der heimischen Jurte der Familie Geschichten von Kamelen und wilden Hunden erzählte. Andere haben sich angepasst, Ewige Schönheit leidet jede Minute unter diesem Leben. Verletzt, mit vom Schmutz geschwärztem Gesicht und zerschundenen Händen, setzt er sich auf eine Röhre abseits der anderen und weint ein weiteres Mal. Wieder erzählt er von seinem schlimmsten Alptraum. »Die Kinder, die in den Häusern leben, wollen uns töten. Sie sagen, dass sie eines Tages die Schächte verschließen und wir für immer hier eingesperrt bleiben.«
»Welche Kinder?«
»Die in den Häusern leben. Sie kommen und beleidigen uns, sie hauen uns mit Stöcken und werfen Sachen in den Schacht.«
»Und wenn sie kommen, wie verteidigt ihr euch?«
»Wir machen nichts, wir lassen sie uns hauen.«
»Warum?«
»Weil sie oben leben und wir unten.«
*
Statt vier Jahreszeiten zwei: die warme Jahreszeit und die kalte.
Die blassen Farben der Wüste Gobi, diese Millionen Quadratkilometer Einsamkeit im Herzen Asiens, wechseln mit dem Spiel von Licht und Schatten des sommerlichen Sonnenuntergangs zu Purpur. Die Steppen enthüllen mit dem Tauwetter das verborgene Grün ihrer Weiden, die Stadt hat die Melancholie des Winters abgeschüttelt und erscheint nicht mehr gar so grau. Man reist in der warmen Jahreszeit in ein Land und erkennt es, wenn man in der kalten zurückkehrt, nicht wieder.
Die Kinder nutzen die Ankunft des Sommers, um aus ihren |210| Schlupfwinkeln hervorzukriechen. Plötzlich erscheint in Ulan-Bator alles einfach. Jeder Ort, ein Park oder eine Brachfläche, ist gut zum Schlafen. Es kommen viel mehr Touristen am Bahnhof an, so wird es einfacher, etwas Geld als Gepäckträger zu verdienen. Einige Monate lang verlassen Ewige Schönheit und die übrigen Kinder die unterirdische Geisterwelt und stoßen zu den Erwachsenen. Wenn man nur etwas unternehmen könnte, um die warme Jahreszeit zu verlängern… Häufig vergeht sie so schnell, dass es scheint, als habe sie Ulan-Bator nur gestreift.
Im Oktober, wenn die Minustemperaturen zurückkehren, streiten die Kinder erneut um die besten Schächte, die Wüste Gobi erhält ihre Wüstenfarbe zurück, und viele Mongolen bleiben daheim, um die Romanze zwischen der armen Zeitungsverkäuferin Estrellita Montenegro (Sonya Smith) und dem Millionär Miguel Ángel Gonzáles (Guillermo Davila) in der täglich ausgestrahlten venezolanischen Seifenoper
Cara Sucia
zu verfolgen, die samstags in fünfstündigen Sendeblocks wiederholt wird. Es gibt kein Budget, die Hunderte von Folgen der Serie zu synchronisieren, sodass die Mongolen sie verfolgen, als sei Spanisch ihre Muttersprache. So lernen sie Spanisch, ohne es zu bemerken, und viele, die glauben, dass Estrellita meine Landsmännin ist, grüßen mich, indem sie immer wieder ihren Namen nennen oder Wendungen von ihr nachahmen. Und so kann man mit dem einheimischen Gruß »Sain bainuu?« ein Lokal betreten und auf Spanisch zur Antwort bekommen: »Por qué no me amas?« (»Warum liebst du mich nicht?«).
In den Restaurants, den Wohnungen, in öffentlichen Gebäuden, überall fiebern die Menschen mit Estrellitas Schicksal mit, als wäre es ihr eigenes. Die Reisenden, die am Bahnhof auf ihren Zug warten, verfolgen die Serie gebannt auf den Bildschirmen im Wartesaal, während sich die Kinder, die ebenfalls zuschauen, wenn man sie lässt, bei den Liebesszenen vor Lachen schütteln. Selbst in der Steppe weint und freut man sich mit der Zeitungsverkäuferin. Das Fernsehen ist zu einem Symbol des brutalen Wandels geworden, der seit der Ankunft der Sowjets 1924 und mehr noch seit ihrem |211| Abzug über die Nomaden hereingebrochen ist. Die Menschen der Weiden, Erben der ältesten Nomadengesellschaften der Welt, können heute dank ihrer Fernseher, die mit riesigen Parabolantennen verbunden sind und ihren Strom von alten Autobatterien erhalten, die von Sonnenkollektoren gespeist werden, an die Strände
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