Kinder des Monsuns
Kaliforniens reisen, die Fußballweltmeisterschaft sehen und Modenschauen für Damenunterwäsche der Firma Victoria’s Secret verfolgen.
Und das alles mitten in der Wüste Gobi.
Wenn die Mongolen das Fernsehen einschalten, sehen sie nicht den Fortschritt der USA oder Europas, sondern ihre eigene Rückständigkeit. Der Bildschirm zeigt ihnen eine falsche Welt des Überflusses, die suggeriert, dass sich die besten Weidegründe in Wirklichkeit in der Stadt befinden, wo man den Airag, die vergorene Stutenmilch der Mongolen, im Laden gegenüber kauft. Die Nomaden fragen sich, ob ihre Lebensform, das Modell Dschingis Khan, noch einen Wert hat. Ihr Leben war immer an das Land, die Jurte und die Tiere gebunden, doch vor allem an die Abwesenheit von Zäunen, denn die Nomaden brauchen Raum und Bewegungsfreiheit, um auf der Suche nach den besten Weiden und einem milder gestimmten Tengri von hier nach dort ziehen zu können. Hier gibt es etwas, was die Mongolen mit den sowjetischen Kolonisatoren gemein hatten: Sie glaubten nicht an Privateigentum.
Das Fernsehen verändert die Wahrnehmung des Glücks. Ihre Wünsche, Bedürfnisse und Ambitionen wandeln sich. Die Mädchen möchten eine helle Haut, glänzende Haare und eine Wespentaille. Sie bitten ihre Eltern um Shampoo und Gesichtspackungen. Sie weinen, weil sie nicht so sein können wie die Mädchen im Fernsehen. Die Jungen streben nicht mehr danach, die Tiere zu übernehmen und durch die Steppe zu reiten, sie eifern nicht mehr ihren Vätern nach. Sie ziehen eine Arbeit in der Stadt vor. Das Fernsehen hat in ihnen neue, unbekannte Träume geweckt. Häufig auch falsche.
Die neuen Generationen von Politikern, die in der Stadt ausgebildet |212| wurden, halten das Nomadenleben ebenfalls für rückständig. Sie stellen sich vor, das Land in kleine Privatparzellen aufzuteilen, um den Wettbewerb zu fördern und Industriestädte zu entwickeln, wo heute nur Viehherden weiden. Durch die Verstädterung ländlicher Gebiete, das Konsumdenken und das wachsende Gefälle zwischen Arm und Reich werden die Nomaden zunehmend marginalisiert. Das Leben in der Mongolei hat sich derart verändert, dass die fortschrittlichsten auf lärmenden IZH-Planeta-Motorrädern aus sowjetischer Produktion über die Steppe rasen, statt auf dem Pferderücken, auf dem ihre Vorfahren die Welt eroberten. Die Jungen haben einen Exodus begonnen. Beim Verlassen einer angesagten Diskothek erlebte ich in Ulan-Bator eine Szene wie aus dem Wilden Westen: Die Pferde einer Gruppe Jugendlicher waren an den Bäumen festgebunden, während sie auf der Tanzfläche nach amerikanischem Rap tanzten. Sie waren Hunderte von Kilometern geritten, um die Jurten ihrer Eltern zu verlassen und das Wochenende in der Stadt zu verbringen.
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Chinzorig schlägt vor, aus Ulan-Bator hinauszufahren, um mir die Veränderungen zu zeigen, die das Leben der Mongolen auf den Kopf stellen. Mein Fluglotse, Taxifahrer und Fremdenführer will sich schon seit langem einen Geländewagen zulegen, um den Touristen die majestätischen Berge von Khentei, Khangai und Soyn zu zeigen, die heiligen Flüsse Kherlen, Onon und Tuul, die blauen Seen von Khuvsgul, Uvs und Buir, die Wüste Gobi, die Sandmeere des Südens und die Steppe, die für den mongolischen Dichter Natsagdorj im Winter von Kristall und Glas, im Sommer von einem Blumenteppich bedeckt war. Es werden wohl noch zwei Jahre ins Land gehen, bevor sich Chinzorig diesen Traum erfüllen und eine Reisefirma mit Namen Golden Square gründen kann, um Ungläubigen wie mir die Schönheiten der Mongolei zu erschließen. Alle Mongolen haben einen Nomaden in sich, und Chinzorig, obwohl eingefleischter Städter, genießt es zuweilen, in Jurten mitten im |213| Nichts zu übernachten, die Wüste Gobi zu durchstreifen, mit den Steppenbewohnern zusammenzuleben und Ausländern, die noch nicht das Glück hatten, die Mongolei kennen zu lernen, das Beste von seinem Land zu zeigen.
Ich frage ihn, ob er nicht von hier fortgehen möchte, er, der perfekt Englisch spricht, der herumgekommen ist und darauf vorbereitet wäre. Wäre ein Land, das ihm größere Chancen bietet, nicht die bessere Wahl für ihn?
»Weggehen?«, fragt er ungläubig, »vom besten Ort der Welt, wo die schönsten Frauen und die treuesten Freunde sind? Jedes Mal, wenn ich fortgehe, spüre ich eine Sehnsucht, die mich zurückkehren lässt, ich kann nirgendwo anders leben. Glaub mir, auch wenn es nicht immer den Anschein hat, die Mongolei ist das beste Land
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