Kinder des Monsuns
der Welt.«
Wir fahren nach Norden über das Weideland und alle paar Kilometer fragt mich Chinzorig, wie ich es finde, ob ich an den Orten, an denen ich war, in Europa, Asien oder Amerika, etwas so Schönes gesehen habe wie diese schneeweißen Täler, die über die Steppe galoppierenden, herrenlosen Pferde und die ungeheuren Ebenen, die das Eis in Spiegel verwandelt, in denen sich dieses Volk stolz betrachtet. Plötzlich ist die Mongolei nicht mehr der einsame Zechbruder in der Ecke der Kneipe, der zu vergessen sucht, sondern eine blendend schöne, in funkelnder Nacht strahlende Sängerin mit offenem Haar und liebenswürdigem Lächeln, die den Gast zum Mitsingen einlädt. Ja, Chinzorig hat recht, die Mongolei ist wirklich ein schönes Land.
In der Ferne erblicken wir an einem Hang eine Jurte und beschließen, sie zu besuchen. In dem Zelt wohnt ein junges Ehepaar mit ihrem fünfjährigen Sohn Pfeilspitze. Wie es den Eltern von Ewige Schönheit Jahre zuvor ergangen war, suchen sie verzweifelt einen Ort, an dem sie ihre Tiere ernähren können. Sie befinden sich weniger als 100 Kilometer von Ulan-Bator entfernt und sind einem Leben gefährlich nahe, das nicht das ihre ist, in einer Stadt, die ihnen nichts bieten kann.
Letztes Jahr herrschte eine große Dürre im Land, gefolgt von einem Winter mit Temperaturen von 40 Grad unter null und eisigen |214| Winden. Die Mongolen nennen dieses Phänomen
dzud
, es sind Eisstürme, die über die Weiden fegen, die Tiere verhungern lassen und das Leben des härtesten Nomaden elend machen. Die winterliche Jahreszeit verliert jeden Zauber und zerstört auf die brutalste Weise die Träume der Menschen. Der
dzud
verwandelt die Ebenen der Mongolei in einen gewaltigen Friedhof, übersät mit Tausenden von eingefrorenen Viehskeletten, eine Szenerie, die dem Bild Zhongdus sehr nahe kommen muss, wie es sich einem der ersten Reisenden darbot, nachdem Dschingis Khan es dem Erdboden gleichgemacht hatte. Als sich der Besucher der Stadt näherte, fragte er in einem Dorf, was für ein schneeweißer Berg das sei, den man von fern sehe, woraufhin ihm die Dorfbewohner erwiderten, es handele sich um die von den Kriegern des großen Khan aufgetürmten Knochen der ehemaligen Stadtbewohner.
Um den Eismonsun zu überdauern, türmen einige Familien die toten Tiere um ihre Zelte auf und schaffen so eine Mauer aus Kadavern, mit der sie sich vor den Windböen schützen, die die Temperatur um weitere 20 Grad senken. Der
dzud
sucht die Steppe etwa alle fünf bis sechs Jahre heim, doch im neuen Jahrhundert ist er schon das zweite Jahr in Folge über das Land hergefallen, und es sollten bald noch zwei weitere hinzukommen. Ohne Tiere und in der Angst, dass die Kinder nicht überleben könnten, drängen sich Tausende von Nomaden in ihren Jurten am Stadtrand von Ulan-Bator. Arbeitslos und unfähig, sich an das neue Leben anzupassen, ertränken die Familienväter ihre Depression im Alkohol und reihen sich in das Heer der Betrunkenen ein, das Ulan-Bator zur Stadt mit der weltweit größten Alkoholikerdichte macht. Einige nehmen sich das Leben, das sie längst nicht mehr wiedererkennen. Jeden Tag stößt irgendein neues Kind zur dunklen Welt der unterirdischen Fernwärmeschächte.
*
Das junge Nomadenpaar lädt uns zum Tee ein. Der Zelteingang aus Filz ist rund wie die Sonne und weist nach Süden, wie es Tradition |215| ist. Links befindet sich eine Gästeecke, im hinteren Teil ein
koimor
, wo die Wertsachen aufbewahrt werden und die Alten sitzen. Außerdem gibt es einen kleinen Altar, den Ofen im Zentrum und Fotos an den Wänden. Neben der Jurte steht eine Satellitenschüssel, die an einen alten Fernseher angeschlossen ist und internationale Sender in das Zelt holt. Gounkhu, der Familievater, erzählt, wie hart der Winter ist und fragt uns nach dem Leben in der Stadt. »Schwierig«, sagt Chinzorig, ohne das Bild zu erwähnen, das sich uns beim Verlassen von Ulan-Bator bot, Hunderte Jurten, die sich auf morastigen Brachflächen eng zusammendrängten.
Als wir nach Ulan-Bator zurückkehren wissen wir nicht, welche Richtung die junge Familie einschlagen wird – in die Stadt oder die Steppe? Ich würde mir wünschen, dass sie umkehren, doch sicher werden sie es nicht tun. Wird Pfeilspitze wie Ewige Schönheit in einem Fernwärmeschacht enden und sich nach den Tagen zurücksehnen, in denen er im Winter frei über die weiße Steppe und im Sommer durch das grüne, mit Blumen übersäte Meer lief?
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