Kinder des Monsuns
in die Steppe holt mich Chinzorig vom Hotel ab, und wir machen uns auf die Suche nach Ewige Schönheit und seiner Bande. Sie sind nicht zu Hause. Wir kommen später wieder, doch in dieser Nacht kehren sie nicht zum Schlafen zurück, obwohl es in Ulan-Bator geschneit hat und die Temperaturen wieder gesunken sind.
»Sie werden morgen hier sein«, versichert Chinzorig, als er meinen Verdruss bemerkt.
Am folgenden Tag treffen wir sie auch nicht an. Zwei Tage lang suchen wir die Straßen, den Bahnhof, den Schwarzmarkt und das Zentrum nach ihnen ab, fragen andere Kanalkinder nach ihnen. Nichts. Ich erinnere mich an den letzten Tag mit ihnen, als sie von Nachbarn, die ihnen nie ein Stück Brot oder heiße Milch gegeben hatten, beleidigt wurden, weil sie mit einem Ausländer sprachen. »Sprecht nicht mit ihm, ihr seid die Schande der Mongolei. Was werden diese Leute denken?«, sagte eine Frau mit Einkaufstüten in der Hand. »Ruf jemand die Polizei«, verlangte ein anderer mit |216| mehr Stolz als Nächstenliebe. An jenem Abend brachten wir einen Berg Essen und Coca Cola in den Schlupfwinkel, und zum ersten Mal sah ich Ewige Schönheit lächeln.
Die Stunde meiner Abreise ist gekommen, und ich bedaure, dass ich die Kanalkinder nicht wenigstens noch einmal sehen konnte. Chinzorig ruft einen seiner alten Kollegen im Kontrollturm des Flughafens an und fragt, wann der Flug geht. Es schneit in Ulan-Bator, uns bleiben noch ein paar Stunden. Auf dem Weg zum Flughafen halten wir ein letztes Mal am Zuhause der Kinder von Dschingis Khan, in der dritten Welt der Mongolei, zwei Stockwerke unter dem Ewigen Blauen Himmel. Es gibt niemand auf der Straße, niemand späht aus den Fenstern der alten, grauen Blocks am Ende der Straße, und auch niemand aus dem Einstiegsschacht. Die Löcher sind versiegelt. Vielleicht sind sie noch einmal gekommen, hörten Schritte und stahlen sich heimlich durch den Spalt davon, den Ewige Schönheit nicht zu breit und nicht zu schmal gelassen hatte. Möglicherweise entkamen sie so einer weiteren Razzia oder den Jungen aus gutem Hause. Oder sie, die Nomaden der Schächte, hatten beschlossen, an einen anderen Ort zu ziehen.
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|219| Kapitel 8
Kim – Im Reich der Finsternis
|221| L icht und Dunkel. Ein Satellitenfoto der koreanischen Halbinsel bei Nacht. Der Süden ist mit funkelnden Lichttupfern gesprenkelt, ein leuchtender Tannenbaum. Es sind die Büros, die Karaoke-Bars, die erleuchteten Wohnzimmer der Häuser, die Autobahnen, die Straßenlaternen, die vor dem Fernseher versammelten Familien. Im Norden dagegen, nördlich des 38. Breitengrades, nichts. Ein gewaltiger dunkler Raum. Und darin die Bewohner. Im Reich der Dunkelheit.
In das Reich der Dunkelheit zu reisen ist nicht so leicht. Die Wächter wollen nicht das kleinste Fünkchen Helligkeit durch das Tor einlassen. Das Land ist abgeschottet. Im Konsulat in Hongkong gibt man mir ein Merkblatt, danach ist insbesondere »Japanern, Amerikanern und Journalisten« die Einreise verboten.
»Trifft davon etwas auf Sie zu?«, werde ich gefragt.
»Äh, davon, also, nein, natürlich nicht.«
Da mein Reiseziel ein Land der Lüge ist, als dessen Präsident offiziell ein Mann fungiert, der schon seit Jahren tot ist, mit einer Regierung, die behauptet, das Paradies auf Erden geschaffen zu haben, während ihr Volk verhungert, werden es mir die Wächter der journalistischen Ethik wohl verzeihen, wenn ich einige Tage lang selbst zur Lüge greife, schließlich bin ich gezwungen, mich für einen anderen auszugeben, um ein Visum zu erhalten.
Peter Pang, Eigentümer einer Hongkonger Druckerei, versorgt |222| mich mit Visitenkarten, auf denen ich mich als der »Sales Manager« einer Papierfirma präsentiere. Ein guter Freund hat mir ein Beglaubigungsschreiben geschickt, dass ich für seine Firma arbeite, ich fantasiere mir einen neuen Lebenslauf zusammen, den man von mir verlangt, und werde abermals bei den nordkoreanischen Funktionären vorstellig, mit der Miene eines verirrten Touristen, auch wenn ich mir nicht sicher bin, wie Touristen eigentlich aussehen. Sie begutachten und überprüfen meine Angaben und rufen bei der Firma an. Ja, Herr Jiménez arbeitet hier, bestätigt mein Freund, als Sales Manager im Papiervertrieb. Das Reich der Dunkelheit gewährt mir ein Visum für sieben Tage.
Ich fliege nach Peking und besteige dort ein Flugzeug von Air Koryo, das mich in die Hauptstadt Pjöngjang bringt. Die Maschine startet an einem
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