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Kinder des Monsuns

Kinder des Monsuns

Titel: Kinder des Monsuns Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Jimenez
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Wintertag des Jahres 2002, allerdings muss ich mich, wie ich bei der Landung erfahre, auf eine andere Zeitrechnung umstellen, denn Nordkorea befindet sich im Jahr 91. Einige Jahre zuvor hatte die Regierung nämlich verfügt, die Zeitrechnung mit dem Geburtsjahr des »ewigen Präsidenten« Kim Il Sung beginnen zu lassen, der 1912 geboren wurde * und nun schon seit acht Jahren tot ist, von dem aber alle noch sprechen, als sei er am Leben, weil die Sonne ewig ist und nicht aufhören kann zu scheinen.
    An dem Tag, als Kim starb und die Nordkoreaner als Waisen zurückließ, kam es zu einer der surrealsten Massenhysterien der Geschichte. In einem großen Wettstreit, wer zum Abschied ihres Führers die größtmögliche Trauer und Zerknirschung an den Tag legte, weinten Millionen von Menschen auf der Straße, als hätten sie den liebsten aller geliebten Menschen verloren. Es gab Tausende von Ohnmachten und mutmaßlichen Selbstmordversuchen. Jugendliche zitterten am ganzen Leib und krümmten sich wie von epileptischen Anfällen geschüttelt auf dem Boden. Dem Ansager des amtlichen Fernsehsenders KCTV kam die Nachricht vom Tod |223| des Führers nicht über die Lippen, er brachte unter Schluchzen, Wehklagen und Tränen nur einige zusammenhanglose Sätze hervor: »Ist es wahr?«; »Gehst du, ohne uns mit dir zu nehmen?«; »Ist so viel Schmerz möglich?« Seit damals wird Nordkorea von dem verstorbenen und einbalsamierten Führer, der seinen Titel Großer Führer beibehält, und von seinem Sohn Kim Jong Il, der für sich den Titel Geliebter Führer gewählt hat, gemeinsam geführt.
    Und gemeinsam haben Vater und Sohn das Land in den völligen Ruin gestürzt.
    *
    »Willkommen an einem Ort, der seinesgleichen sucht«, begrüßen mich Herr Pak und Frau Sim auf dem Flughafen, als hätten sie meine Gedanken gelesen. Er ist ein pensionierter Militärangehöriger mittleren Alters, sie eine junge ehemalige Tänzerin, die ihre Karriere aufgrund einer Verletzung vorzeitig beenden musste. Beide sind offizielle staatliche Fremdenführer und Teil eines Heeres von Spitzeln, mit dem die despotischste Diktatur der Welt die wenigen ins Land kommenden Ausländer überwacht. Die Auswahl dieser Spione ist nicht willkürlich, hat doch jeder von ihnen zusätzlich die Aufgabe, die anderen Spitzel zu überwachen und den Vorgesetzten darüber Bericht zu erstatten. Das Kollektiv, das mich am Flughafen empfängt, wird durch einen weiteren Herrn Pak vervollständigt. Er steuert den schwarzen Mercedes, den mir die Regierung zur Verfügung stellt.
    Die Übereinstimmung zwischen den Nachnamen der beiden Herren Pak ist nicht so zufällig, wie es scheinen könnte. Etwa die Hälfte der koreanischen Bevölkerung im Norden wie im Süden trägt einen von drei Familiennamen: Kim, Lee oder Pak. Nach konfuzianischer Auffassung gehören zwei Menschen mit demselben Nachnamen zur selben Familie, auch wenn sie sich nicht kennen und ihre Verwandtschaftsbande Jahrhunderte zurückliegen, daher ist es in Südkorea immer noch verboten, jemanden mit demselben |224| Nachnamen zu heiraten. Das ist ein Problem, weil dadurch zum Beispiel eine Koreanerin mit dem Namen Lee gezwungen ist, Hunderttausende von potenziellen Heiratskandidaten außer Acht zu lassen und einem Mann gleichen Namens, der ihr in einer Bar vorgestellt wird, sofort die kalte Schulter zu zeigen.
    »Wir betrachten Sie als einen illustren Gast. Nicht alle Tage kommt jemand aus Spanien zu uns«, sagt Frau Sim, die in traditioneller koreanischer Tracht erschienen ist. »Ja, ein illustrer Besucher unseres Geliebten Führers«, fügt Herr Pak hinzu. Die Regierung hat beschlossen, mich im Janggakdo-Hotel unterzubringen, einem riesigen, 42-geschossigen Gebäude auf der Insel Janggak im Taedong-Fluss mit 1 000 Zimmern, von denen nur ein Dutzend belegt ist. Die Hotelrezeption ist mit Fotos und mutmaßlichen historischen Dokumenten der Verbrechen von Amerikanern und Japanern auf der koreanischen Halbinsel tapeziert. Meine Fremdenführer steigen aus dem Wagen und nehmen ihr Gepäck heraus, und einen Augenblick überkommt mich das Gefühl, dass wir alle zusammen in die Ferien fahren.
    »Um Ihre Sicherheit und Ihr Wohlbefinden im Hotel zu gewährleisten, schlafen wir bis zu Ihrer Abreise in den Zimmern neben dem Ihren«, eröffnet mir Herr Pak.
    »Ja, wegen Ihrer Sicherheit«, wiederholt Frau Sim.
    Zur Gewährleistung meiner Sicherheit ist die Hintertür des Hotels mit einem Vorhängeschloss verriegelt und am Vordereingang

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