Kinder des Monsuns
chinesische Produkte nach Nordkorea einzuführen.
Im Restaurant belegen wir einen Tisch für zehn Personen, und ein halbes Dutzend Kellnerinnen beginnt, diesen mit Speisen zu füllen, bis kein Fleckchen mehr übrig bleibt. Die Regierung möchte nicht, dass ihre Besucher mit dem Eindruck fortgehen, dass es in Nordkorea an Nahrungsmitteln mangele, und so geben sich meine Gastgeber redlich Mühe, jede Mahlzeit in ein üppiges Gelage zu verwandeln. Es ist ein schwer verdauliches Bankett für jeden, der in diesem Land ein Waisenhaus gesehen hat, mit verwahrlosten Kindern, die aus Mangel an einem Stück Brot oder einem Glas Milch sterben.
In den letzten fünf Jahren des wirtschaftlichen Desasters sind zwischen ein und zwei Millionen Menschen an einer Hungersnot zugrunde gegangen. Zwischen ein und zwei Millionen? Es ist sicher unpassend und unmenschlich, von Menschenleben in bloßen Zahlen zu sprechen, noch dazu, wenn sie so vage sind, doch tatsächlich weiß niemand, wie viele Opfer es gegeben hat. Die Rede ist nicht von einer Hungersnot wie in Afrika, mit Fernsehkameras und Benefizkonzerten, auf denen Popstars jedes Jahr die darbenden christlichen wie nichtchristlichen Völker fragen, ob sie wissen, dass es schon Weihnachten ist (»Do they know it’s Chrismas?«). Nein, der Hunger in Nordkorea hat keine sichtbaren Toten. Das Einzige, was inmitten der Tragödie omnipräsent ist, das ist Kim Jong Il und sein runder, satter, fetter Wanst, das Symbol einer ins Absurde getriebenen Repression. Er ist der einzige Dicke in einem Land von Hungernden.
Vorletzter Tag in Kimland. Das offizielle Programm sieht einen Besuch an der innerkoreanischen Grenze vor. Die Straße, die von |230| Pjöngjang in die entmilitarisierte Zone zwischen den verfeindeten Bruderstaaten führt, ist vierspurig, perfekt asphaltiert und schnurgerade. Es könnte eine europäische Autobahn sein, wäre da nicht das kleine Detail, das auf ihr keine Autos fahren. Auf einer Strecke von über 170 Kilometer ist uns kein anderes Vehikel begegnet. Nicht ein einziges. Offiziell gibt es nur drei Möglichkeiten für einen Nordkoreaner, in den Besitz eines Privatautos zu gelangen: eine olympische Goldmedaille oder eine ähnliche internationale Auszeichnung zu gewinnen; eine hohe Position zu bekleiden, oder von Kim Jong Il einen Wagen als persönliches Geschenk zu erhalten. Die Nordkoreaner gehen schlicht zu Fuß, sie laufen und laufen, Dutzende von Kilometern, wenn es sein muss. Manche Kinder haben einen fünfstündigen Fußweg zur Schule, lernen zwei Stunden und müssen sich dann wieder auf den Rückmarsch machen, um nicht von der Dunkelheit überrascht zu werden.
Nach einer gespenstischen Fahrt, auf der es für Augenblicke so schien, als sei das Ende der Welt angebrochen, kommen Herr Pak, Frau Sim, der Fahrer Pak und der »ehrenwerte Papierverkäufer«, das bin ich, in dem glänzenden Mercedes in Panmunjom an, einem Grenzort, der wie kein anderer seit Jahrzehnten die Teilung Koreas symbolisiert. Die hier stationierten nord- und südkoreanischen Soldaten sind darauf trainiert, zu vergessen, dass die Militärs auf der gegenüberliegenden Seite ihre Brüder sind, dieselbe Sprache sprechen und demselben Volk angehören. Der Koreakrieg (1950–1953) ist noch nicht zu Ende, denn es wurde damals kein Friedensvertrag, sondern nur ein Waffenstillstandsabkommen unterzeichnet. »Ein Patt«, sage ich laut, um das Schweigen zu brechen.
»Wollen Sie damit sagen, dass wir den Krieg nicht gewonnen haben?«, fragt Frau Sim beleidigt.
»Gut«, versuche ich zu beschwichtigen. »Es kam zur Einstellung der Feindseligkeiten, und die Grenzen blieben praktisch dieselben wie vor dem Krieg.«
|231| »Aber wir haben den Krieg gewonnen«, beharrt Frau Sim mit besorgter Miene und verliert zum ersten Mal ihre gewohnte Sanftheit. »Wir haben ihn dank unseres Großen Führers gewonnen. Wie können Sie sagen, dass wir nicht gesiegt haben, wo es doch in den Büchern steht?«
»In welchen Büchern?«, frage ich. Einen Augenblick reißt mir der Geduldsfaden. »Außerhalb Nordkoreas gibt es andere Bücher, andere Welten, andere Weltsichten. Frau Sim, glauben Sie nicht alles, was Sie lesen.«
Wenn ich mit Frau Sim über den Krieg diskutiere, so deshalb, weil ich zu dem Schluss gekommen bin, dass Herr Pak ein hoffnungsloser Fall ist. Er glaubt die offizielle Propaganda tatsächlich, und meine beharrlichen und provozierenden Diskussionen mit ihm führen ins Leere. Frau Sim jedoch ist mir sympathisch.
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