Kinder des Monsuns
und den chinesischen Provinzen Jilin und Liaoning ab. Beobachtet man die Grenze an den Übergängen lange genug, ist es nicht schwer, Gruppen von Nordkoreanern zu entdecken, die ans andere Ufer zu gelangen versuchen. Auch hier hängt das Leben von den Jahreszeiten ab, von Frost- und Warmsaison. Sinkende Temperaturen in der kalten Jahreszeit lassen das Wasser gefrieren und verwandeln den Fluss in ein silbernes Band, auf dem man zu Fuß in die Freiheit laufen kann, immer in der Hoffnung, dass die Eisdecke auch trägt. Sobald es wieder warm wird, lässt sich der Fluss nur noch schwimmend überwinden.
|234| Die Flucht über den Tumen ist für sich genommen ein großer Widerspruch, schließlich flieht man aus einer Diktatur, nur um in einer anderen zu landen. Wenn es gelingt, sich an den nordkoreanischen Soldaten vorbeizuschleichen, bleibt das Risiko, von den chinesischen entdeckt zu werden. Peking ist um ein gutes Einvernehmen mit dem Alliierten und Freund bemüht und schickt die aufgegriffenen Flüchtlinge zurück, obwohl die Chinesen besser als alle anderen wissen, dass sie in Zwangsarbeitslager gesteckt werden. Den Bewohnern der chinesischen Grenzorte sind die Hände gebunden, weil das chinesische Regime es unter Strafe gestellt hat, nordkoreanischen Flüchtlingen zu helfen oder Unterschlupf zu gewähren. Keine humanitäre Organisation erhält die Befugnis, den Tausenden von Flüchtlingen aus Nordkorea beizustehen. Noch schlimmer als die Gefahren auf der chinesischen Seite ist es jedoch, zu hungern, die eigene Familie sterben zu sehen und nichts unternehmen zu können, um diesem Schicksal zu entgehen. Es kommt der Augenblick, wo die Risiken einer Flucht im Vergleich dazu gering erscheinen.
Kim wog beide Optionen gegeneinander ab und entschloss sich, zu fliehen. Ich traf ihn am Tumen-Fluss auf der chinesischen Seite kurz nach seiner Flucht aus dem Reich der Dunkelheit.
*
Das Erste, was mir an Kim auffällt, ist seine Größe: Er ist 13, wirkt aber nicht älter als zehn. Es wundert mich, ihn alleine anzutreffen, denn normalerweise organisieren die Nordkoreaner ihre Flucht in kleinen Gruppen, um sich gegenseitig zu helfen. Es ist keine Reise für einsame Abenteurer, noch viel weniger für einen Knirps. Kim hat noch nie das Meer gesehen und kann nicht schwimmen, und so steht er, wie er mir drei Wochen später berichtet, nach einem Fußmarsch von 25 Kilometern am Ufer des Tumen und grübelt darüber nach, wie er ans andere Ufer kommen soll. Aus Angst, entdeckt zu werden, versteckt er sich vier Tage lang im Gebüsch |235| und überlegt, ob er es wagen soll oder nicht. Wenn er nicht sofort versucht, auf die andere Seite zu gelangen, wird er hier verhungern, doch wenn er ins Wasser geht, riskiert er, zu ertrinken. Die Entfernung von einem Ufer zum anderen beträgt an dem Punkt, den er gewählt hat, kaum 50 Meter. Schließlich hat er keine Wahl mehr und muss sich entscheiden. Er klammert sich an ein Holzbrett und strampelt mit den Beinen, bis er erschöpft, hungrig und durchweicht das andere Ufer erreicht. Er hat die Flucht aus Nordkorea geschafft.
Frau Fang, die in der Stadt Tumen in der Nähe des Grenzpostens lebt, findet Kim unweit ihres Hauses neben dem Hinweisschild, dass hier die Volksrepublik China beginnt. Sie spritzt ihm Wasser ins Gesicht, um ihn aufzuwecken, und nimmt ihn schnell mit sich fort, bevor die Grenzposten ihn entdecken. Wenige Schritte entfernt unterhält die chinesische Polizei ein Gefängnis für Flüchtlinge, von wo aus sie aufgegriffene Nordkoreaner an die Soldaten der anderen Seite ausliefert. Frau Fang nimmt den kleinen Kim mit nach Hause, versteckt ihn, versorgt seine Blessuren und gibt ihm viermal am Tag etwas zu essen. Nach und nach kehrt wieder Leben in ihn zurück. Der Kim, den ich kennen lerne, ist nicht mehr derselbe, dem es drei Wochen zuvor gelungen war, dem Geliebten Führer zu entwischen.
»Als er ankam, war er ja nur noch Haut und Knochen«, sagt Frau Fang stolz und kneift Kim in die Wange. »Schauen Sie ihn sich nur jetzt an, er sieht ein paar Jahre jünger aus, weil er Fleisch unter der Haut hat. Manchmal lächelt er sogar.«
Die Fangs führen ein Lebensmittelgeschäft und haben einen Sohn, der etwas älter als Kim ist. Sie leben bei Herrn Fangs Eltern, zu denen sie vor zwei Jahren gezogen sind. Anfangs hat sich Herr Fang über das neue Maul, das es nun zu stopfen gilt, beklagt. Er fürchtet, sich wegen dieses neuerlichen Werks der Barmherzigkeit seiner Frau Schwierigkeiten mit
Weitere Kostenlose Bücher