Kinder des Monsuns
der Obrigkeit einzuhandeln, doch dann stimmt er zähneknirschend zu, Kim aufzunehmen, bis er genug Kraft hat, um die Reise zurück nach Nordkorea anzutreten. |236| In seiner ersten Woche in China hat der Junge kaum den Mund aufgetan, er isst nur und schläft. Er lässt sich von niemandem anfassen, die Kleider wechseln oder baden.
Die Fangs wissen nicht, wo er herkommt, wie lange er unterwegs gewesen ist und wo seine Familie lebt. Kim lässt sich eine Woche Zeit, bis er seine Geschichte erzählt, und als er es tut, wird Frau Fang nicht müde, ihn mit Einwürfen wie »Und deshalb muss man diesen Menschen helfen« und »Wie viel Grausamkeit gibt es nur auf der Welt« zu unterbrechen und dabei tadelnd ihren Ehemann anzublicken, zufrieden, dass ihre Großzügigkeit einmal mehr gerechtfertigt erscheint.
»Was sollen wir denn tun?«, fragt sie sich, wenn ihr Mann gegen ihr Engagement für die nordkoreanischen Flüchtlinge protestiert. »Sollen wir etwa diese armen Menschen, die nicht ein noch aus wissen, krepieren lassen?«
Kim erzählt, dass er in einer Kleinstadt von 5 000 Einwohnern aufgewachsen ist, zwei Tagesmärsche von der Grenze entfernt. Die Gemeinde ertrug zwei Jahre der Knappheit und Rationierung so gut es ging, doch im Winter 1998 wurde die Lage unerträglich. Die staatlichen Rationen wurden immer spärlicher und im Dezember des Jahres ohne Vorankündigung ganz eingestellt. Es gab nichts zu essen und kein Saatgut. Kim bestätigt mir Geschichten, die ich zuvor nur gelesen hatte und erst einige Male aus verschiedenen Quellen hören musste, bevor ich sie glauben konnte.
»In unserem Ort haben wir Baumrinde und Kräuter gegessen«, berichtet er. »Aber die Leute haben Bauchschmerzen bekommen und die kleinen Kinder konnten das Essen nicht verdauen. Es gab aber nichts anderes, deshalb haben wir die Rinde in Wasser eingeweicht, um sie leichter schlucken zu können. Viele sind an Durchfall und anderen Krankheiten gestorben.«
Der Hunger ging drei Monate weiter, die Einwohner in Kims Ortschaft verhungerten einer nach dem anderen, bis niemand mehr da war, der ihnen half. Als sich der letzte Winter dem Ende neigte, war die Hälfte der Bevölkerung umgekommen und die andere |237| Hälfte rang mit dem Tod. Da es weder Heizung noch Elektrizität gab, fragten sich die Eltern nur, was ihre Kinder zuerst umbringen würde, die Kälte oder der Hunger. Kim beschreibt Szenen von Sterbenden, die wie Zombies umherliefen, bis sie tot umfielen. Die örtlichen Funktionäre des Regimes hatten sich mit dem Versprechen aus dem Staub gemacht, nach Pjöngjang zu gehen und Hilfe herbeizuholen. Man sah sie nie wieder. Die Erwachsenen gaben ihren Kindern das Wenige, das sie hatten, und starben zuerst, doch dann blieben die Kinder als Waisen allein zurück und mussten sich um sich selbst kümmern. Die Mütter, die vor kurzem ein Kind geboren hatten, stillten so viele Kinder, wie sie konnten, ihre eigenen ebenso wie fremde, und wenn etwas übrig blieb, boten sie ihre Milch auch den Erwachsenen an.
So lag der ganze Ort, den man seinem Schicksal überlassen hatte, im Sterben. Alle Aktivitäten kamen zum Erliegen. Alle Energie richtete sich darauf, Nahrung zu suchen, doch der vorherige Winter war mit Temperaturen von minus 20 Grad so streng, dass selbst die Insekten und Ratten verschwanden. Die Kälte fror die Flüsse zu, Raureif überzog die Felder, das Leben war aus allem geschwunden, worauf der Blick fiel. Kims Vater war bereits Jahre zuvor gestorben, sodass sich seine Mutter allein um die vier Kinder kümmern musste. »Meine Mutter gab alles Essen, was sie hatte, meinen Geschwistern und mir. Sie sagte, dass ich überleben muss, damit ich mich um die anderen kümmern kann. Eines Tages ist sie krank geworden und wurde immer schwächer – dann ist sie gestorben.«
Die Nachbarn, die den Winter überlebt hatten, versammelten sich im Sommer und organisierten drei oder vier Gruppen von Jugendlichen und einigen Kindern, die sich noch auf den Beinen halten konnten. Sie erhielten den Auftrag, die Grenze nach China zu überqueren, dort Nahrung zu holen und zurückzukehren. Kim meldete sich freiwillig und schloss sich einer Gruppe von vier Jungen an, alle in seinem Alter. Obwohl nur er es auf die andere Seite geschafft hatte, war er fast bis zum Ende der Reise mit den anderen |238| zusammengeblieben. Eines Nachts, als sie sich der Grenze näherten, hörten sie die Stimmen von Soldaten und alle liefen weg, um sich zu verstecken. Am nächsten Morgen
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