Kinder Des Nebels
neben ihm zum Stillstand. Rechts von ihnen befand sich ein offener, gewölbter Durchgang, und aus ihm ergoss sich ein Licht, das viel heller war als das aus den Lampen im Korridor. Vin löschte ihr Zinn und folgte Kelsier durch den Türbogen in den Raum dahinter.
Sechs offene Flammen brannten in Kohlenpfannen, die in den Ecken eines großen Raums mit einem Kuppeldach standen. Im Gegensatz zu den schmucklosen Korridoren war dieses Zimmer mit Wandbildern aus eingelassenem Silber verziert. Jedes zeigte den Obersten Herrscher. Sie glichen den Darstellungen auf den Fenstern, die sie während des Balls betrachtet hatte, doch sie waren weniger abstrakt. Vin sah einen Berg. Eine große Höhle. Einen Teich aus Licht.
Und sie sah etwas sehr Dunkles.
Kelsier trat neben sie, und Vin wandte sich von den Bildern ab. Die Mitte des Raumes wurde beherrscht von einem kleinen Gebilde - von einem Gebäude innerhalb des Gebäudes. Es war ein Stockwerk hoch, und der behauene Stein war reich mit fließenden Mustern verziert. Dieses leere, stille Zimmer verursachte bei Vin ein seltsames Gefühl von feierlichem Ernst.
Kelsier trat vor; seine Schritte klangen leise auf dem glatten schwarzen Marmorboden. Vin folgte ihm in ängstlich geduckter Haltung. Der Raum schien leer zu sein, doch es musste noch weitere Wächter geben. Kelsier ging hinüber zu einer großen Eichentür, die in das innere Gebäude eingelassen und mit Schriftzeichen bedeckt war, die Vin nicht lesen konnte. Kelsier streckte die Hand aus und zog die Tür auf.
In dem einstöckigen Gebäude stand ein Stahlinquisitor. Die Kreatur lächelte und verzog dabei die Lippen zu einem unheimlichen Ausdruck. Zwei massive Stahlstachel waren ihr mit den Spitzen voran durch die Augen getrieben worden.
Kelsier erstarrte nur einen Augenblick lang. Dann schrie er:
»Vin, lauf!«,
als die Hand des Stahlinquisitors vorschoss und ihn an der Kehle packte.
Vin konnte sich nicht regen. Sie sah, wie zwei weitere schwarz gewandete Inquisitoren durch offene Bogengänge an den Seiten des Zimmers schritten. Sie waren groß, schmal und kahlköpfig und trugen ebenfalls die Stacheln in den Augen sowie die verschlungenen Tätowierungen des Ministeriums.
Der Inquisitor, der Kelsier gepackt hatte, hob ihn am Hals in die Luft. »Kelsier, der Überlebende von Hathsin«, sagte die Kreatur mit rauer, schleppender Stimme. Dann wandte sie sich an Vin. »Und ... du. Nach dir habe ich gesucht. Ich lasse diesen hier schnell sterben, wenn du mir verrätst, welcher Adlige dich gezeugt hat, Halbblut.«
Kelsier hustete und rang nach Atem, während er den Griff der Kreatur zu lockern versuchte. Der Inquisitor drehte sich um und betrachtete Kelsier mit seinen Stachelaugen. Kelsier hustete abermals, als ob er etwas sagen wollte, und der Inquisitor zog ihn neugierig näher an sich heran.
Kelsiers Hand peitschte vor und rammte der Kreatur einen Dolch in den Hals. Als der Inquisitor taumelte, schlug Kelsier mit der Faust gegen den Unterarm der Kreatur und zerschmetterte den Knochen. Der Inquisitor ließ ihn los, und Kelsier fiel hustend auf den spiegelnden Marmorboden. Er rang nach Luft und schenkte Vin einen durchdringenden Blick. »Ich habe
lauf weg
gesagt!«, krächzte er und warf ihr etwas zu.
Vin streckte die Hand aus und wollte die Geldbörse auffangen. Doch mitten in der Luft ruckte sie seitwärts und schoss auf Vin zu. Sie begriff plötzlich, dass Kelsier sie ihr nicht zuwarf, sondern sie ihr
entgegenschleuderte.
Der kleine Beutel traf sie an der Brust. Mit dem ungeheuren Schwung von Kelsiers allomantischen Kräften wirbelte er Vin quer durch den Raum - an den beiden verblüfften Inquisitoren vorbei -, bis sie schließlich zu Boden ging und über den glatten Marmor schlitterte.
Benommen schaute Vin auf. Am anderen Ende des Raumes kämpfte sich Kelsier auf die Beine. Der Hauptinquisitor schien den Dolch in seinem Hals kaum zu bemerken. Die anderen beiden Inquisitoren standen zwischen ihr. Der eine wandte sich ihr zu, und angesichts seines entsetzlichen, unnatürlichen Blicks lief es Vin kalt den Rücken herunter.
»LAUF!«
Das Wort hallte durch den Kuppelraum. Und diesmal wirkte es.
Vin sprang auf die Beine. Die Angst schrie und trieb sie an. Sie schoss durch den nächstgelegenen Türdurchgang, wusste nicht, ob es derjenige war, durch den sie hergekommen waren. Sie hielt Kelsiers Geldbörse fest, verbrannte Eisen und suchte wie rasend nach einem Anker im Korridor.
Bloß weg von hier!
Sie packte das erste
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