Kinder Des Nebels
was das bedeutete, sprang Vin über den Altar und hielt das Buch als Schutzschild gegen weitere Geschosse vor sich. Der Inquisitor wirbelte herum; seine Stachelaugen folgten ihr, als sie in den Korridor schlüpfte.
Dort wartete eine Schwadron Soldaten auf sie. Doch jeder einzelne besaß einen Zukunftsschatten. Vin huschte zwischen ihnen hindurch und beobachtete nur beiläufig, wohin ihre Waffen zielten. Es gelang ihr irgendwie, den Angriffen aller zwölf Männer auszuweichen. Einen Augenblick lang vergaß sie fast alle Schmerzen und Ängste; sie wurden durch ein ungeheuerliches Gefühl der Macht ersetzt. Mühelos wich sie den Lanzen über und neben ihr aus; jede Einzelne verfehlte sie nur um Haaresbreite. Sie war unbesiegbar.
Sie wand sich durch die Reihen der Männer und machte sich nicht einmal die Mühe, sie zu verletzen oder gar zu töten - sie wollte ihnen nur entkommen. Nachdem sie den letzten hinter sich gelassen hatte, huschte sie um eine Biegung.
Und ein zweiter Inquisitor, aus dessen Körper unzählige Schatten sprangen, trat ihr in den Weg und rammte ihr etwas Scharfes in die Seite.
Vin keuchte vor Schmerz auf. Es machte ein ekelhaftes Geräusch, als die Kreatur ihre Waffe aus Vins Körper zog. Es handelte sich um einen Holzschaft mit einer Klinge aus scharfem Obsidian. Vin hielt sich die Seite, taumelte zurück und spürte, wie eine erschreckende Menge warmen Blutes aus der Wunde sickerte.
Diesen Inquisitor kannte sie bereits.
Er ist der Erste, der aus dem anderen Raum,
dachte sie unter Schmerzen.
Heißt das ... heißt das, dass Kelsier tot ist?
»Wer ist dein Vater?«, fragte der Inquisitor.
Vin hielt die Hand gegen ihre Flanke gedrückt und versuchte den Blutfluss aufzuhalten. Es war eine große Wunde. Eine schlimme Wunde. Sie hatte solche Wunden schon öfter gesehen. Immer waren sie tödlich gewesen.
Aber sie stand noch aufrecht.
Weißblech,
dachte ihr verwirrter Geist.
Verbrenne Weißblech!
Sie tat es, und das Metall verlieh ihr sogleich körperliche Stärke, so dass sie auf den Beinen blieb. Die Soldaten bildeten eine Gasse, und der zweite Inquisitor näherte sich ihr von der Seite. Entsetzt schaute Vin vom einen zum anderen. Sie kamen immer näher. Blut strömte aus Vins Wunde. Der Anführer der Inquisitoren schwang noch immer die axtähnliche Waffe, deren Ränder mit Blut überzogen waren. Mit Vins Blut.
Ich werde sterben,
dachte sie entsetzt.
Und dann hörte sie es. Regen. Es war schwach, doch ihre geschärften Ohren nahmen dieses Geräusch hinter ihr wahr. Sie wirbelte herum, sprang durch eine Tür und wurde von dem Anblick eines großen, offenen Durchgangs auf der anderen Seite des Zimmers belohnt. Nebel bildete Teiche auf dem Boden, und der Regen prasselte auf die Steine vor ihm.
Das muss der Raum sein, aus dem die Wachen gekommen sind,
dachte sie. Sie verbrannte weiterhin Weißblech und war erstaunt darüber, dass ihr Körper noch immer funktionierte. Sie taumelte hinaus in den Regen, wobei sie reflexartig das Buch mit dem Ledereinband gegen ihre Brust drückte.
»Glaubst du etwa, du kannst entkommen?«, fragte der Inquisitor hinter ihr in belustigtem Tonfall.
Benommen hob Vin eine Hand und zog mit ihrer Allomantie an einem der vielen Stahltürme des Palastes. Sie hörte den Inquisitor fluchen, als sie in die Luft sprang und in die dunkle Nacht hineinschoss.
Tausend Türme und Spitzen erhoben sich überall um sie herum. Sie zog an einer, dann an einer anderen. Der Regen war heftiger geworden und schwärzte die Nacht. Kein Nebel spiegelte mehr das schwache Licht der Umgebung wider, und die Sterne waren hinter den Wolken verborgen. Vin konnte nicht erkennen, wohin sie strebte; sie musste Allomantie benutzen, um die Metallspitzen der Türme zu spüren, und sie konnte nur hoffen, dass sich keinerlei Hindernisse dazwischen befanden.
Sie traf auf eine der Spitzen, hielt sich an ihr fest und kam zum Stillstand.
Muss die Wunde verbinden
dachte sie schwach. Allmählich wurde ihr Körper gefühllos, und trotz des Weißblechs und Zinns umwölkte sich ihr Verstand.
Etwas schlug gegen die Turmspitze über ihr, und sie hörte ein langgezogenes Knurren. Vin drückte sich los, während sie spürte, wie der Inquisitor neben ihr seine Waffe durch die Luft schwang.
Ihr blieb nur eine einzige Möglichkeit. Mitten im Sprung zog sie sich seitwärts auf eine andere Turmspitze zu. Gleichzeitig drückte sie gegen das Buch in ihren Händen - es steckten noch einige winzige Metallstücke im Einband.
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