Kinder Des Nebels
noch.
Trotzdem suchte sie den nackten Boden ihrer Zelle ab und hoffte auf einen weggeworfenen Nagel oder eine Nadel. Aber sie fand nichts, also richtete sie ihre Aufmerksamkeit auf die Gitterstäbe. Doch sie hatte keine Ahnung, wie sie auch nur einen Span von ihnen abreiben konnte.
So viel Metall,
dachte sie frustriert.
Und ich kann nichts davon benutzen!
Sie setzte sich auf den Boden, lehnte sich gegen die Steinwand und zitterte leise in ihrer feuchten Kleidung. Draußen war es noch dunkel; durch das Fenster des Raumes drangen einige Nebelschwaden ein. Was wohl aus der Rebellion geworden war? Und was aus ihren Freunden? Sie hatte den Eindruck, dass der Nebel jenseits der Mauer ein wenig heller als gewöhnlich war. Fackelschein in der Nacht? Ohne Zinn waren ihre Sinne zu schwach, um irgendetwas zu erkennen.
Was habe ich mir bloß dabei gedacht?,
fragte sie sich verzweifelt.
Habe ich wirklich angenommen, ich könnte da Erfolg haben, wo Kelsier gescheitert ist? Er wusste, dass das Elfte Metall nutzlos ist.
Ja, es hatte tatsächlich etwas bewirkt, aber keinesfalls hatte es den Obersten Herrscher getötet. Nachdenklich saß sie da und versuchte zu verstehen, was geschehen war. Es war etwas seltsam Vertrautes an dem gewesen, was das Elfte Metall ihr gezeigt hatte. Dies bezog sich nicht auf die Visionen, die ihr erschienen waren, sondern auf das, was Vin beim Verbrennen dieses Metalls gefühlt hatte.
Gold. In dem Augenblick, in dem ich das Elfte Metall verbrannt habe, war es wie damals, als Kelsier mir das Gold gegeben hatte.
War es möglich, dass das Elfte Metall überhaupt kein eigenständiges Metall war? Gold und Atium waren Vin schon immer als seltsam verschwistert erschienen. Alle anderen Metalle traten in Paaren auf: ein Basismetall und eine Legierung, die jeweils das Gegenteilige bewirkten. Eisen zog, Stahl drückte. Zink zog, Messing drückte. Es ergab einen Sinn. Außer bei Atium und Gold.
Was war, wenn es sich bei dem Elften Metall um eine Atium- oder Goldlegierung handelte?
Das würde bedeuten, dass ... Gold und Atium kein Paar sind. Sie bewirken Unterschiedliches. Sie sind zwar ähnlich, aber doch verschieden voneinander. Sie sind wie ...
Wie die anderen Metalle, die in größere Gruppen zu je vier zusammengefügt werden können. Es gab die physischen Metalle: Eisen, Stahl, Zinn und Weißblech. Es gab die geistigen Metalle: Bronze, Kupfer, Zink und Messing. Und es gab jene Metalle, welche die Zeit veränderten: Gold und seine Legierung sowie Atium und seine Legierung.
Das bedeutet, dass es noch ein anderes Metall geben muss. Eines, das noch nicht entdeckt wurde - möglicherweise weil Atium und Gold zu wertvoll sind, um in einer Legierung verarbeitet zu werden.
Doch was half ihr dieses Wissen? Ihr »Elftes Metall« war vermutlich nur ein Gegenstück zum Gold - zu dem Metall, das nach Kelsiers Meinung das nutzloseste von allen war. Gold hatte Vin ein Bild von sich selbst gezeigt - oder eher eine andere Version ihres Selbst, die so wirklich erschienen war, dass Vin sie sogar hatte anfassen können. Doch es war einfach nur eine Vision dessen gewesen, was sie hätte sein können, wenn ihre Vergangenheit anders verlaufen wäre.
Das Elfte Metall hatte etwas Ähnliches bewirkt. Anstatt Vins eigene Vergangenheit zu zeigen, hatte es ihr Visionen anderer Menschen beschert. Und das sagte ihr ... gar nichts. Es war gleichgültig, was der Oberste Herrscher hätte sein können. Er war der Mann, der er hier und jetzt war - der Tyrann, der über das Letzte Reich herrschte, gegen das sie kämpfte.
Eine Gestalt erschien in der Tür. Es war ein in eine schwarze Robe gekleideter Inquisitor, der die Kapuze aufgesetzt hatte. Sein Gesicht lag im Schatten, doch die flachen Stachelenden ragten über den Rand hinaus.
»Es ist Zeit«, sagte er. Ein weiterer Inquisitor wartete in der Tür, während die erste Kreatur einen Schlüsselbund hervorholte und sich daranmachte, Vins Tür zu öffnen.
Sie spannte sich an. In der Tür klickte es. Vin sprang auf die Beine und stürzte vor.
Bin ich ohne Weißblech immer so langsam gewesen?,
dachte sie entsetzt. Der Inquisitor packte ihren Arm, als sie an ihm vorbeirennen wollte. Seine Bewegung war gelassen, fast beiläufig. Sie erkannte den Grund dafür. Seine Hände waren übernatürlich schnell, und im Vergleich zu ihm wirkte sie geradezu träge.
Der Inquisitor zerrte sie an sich und hielt sie mühelos fest. Er schenkte ihr ein böses Grinsen. Sein Gesicht war vernarbt. Die Narben
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