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Kindersucher - Kriminalroman

Kindersucher - Kriminalroman

Titel: Kindersucher - Kriminalroman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Grossman
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Schädel hineinblicken könnten, würden wir vielleicht sehen, wie eine Person denkt«, erläuterte er an niemand im Besonderen gerichtet, während er sich darauf konzentrierte, die Drähte von der Maschine an Frau Klopstocks Schädel zu befestigen. Die lächelte dabei in stoischer Ruhe. »Bis jedoch Experimente an lebenden Menschen erlaubt sind, muss ich mich wohl hiermit begnügen. Man nennt es Elektroenzephalogramm, EEG. Mein Kollege Hans Berger hat die Maschine letztes Jahr erfunden.« Mit Kontaktgel und Wattekissenbefestigte der Doktor einen Draht nach dem anderen am Kopf der armen Frau Klopstock, bis sie aussah wie ein Tiefseefisch. »Dieses Gerät misst elektrische Aktivität auf der Kopfhaut, erzeugt von Neuronen, die im Hirn gezündet werden. Berger hat bis jetzt zwei Arten von Wellen feststellen können: Alpha- und Betawellen. Jede der beiden wird in unterschiedlichen Linien auf dieser Maschine aufgezeichnet, einem Galvanometer von Siemens mit zwei Aufzeichnungsspulen. Frau Klopstock hat, glaube ich, bisher ihre Stimme immer der katholischen Zentrumspartei gegeben. Habe ich recht, Frau Klopstock?«
    »Allerdings, Herr Doktor.« Die Frau lächelte tapfer, trotz ihrer etwas unvorteilhaften Kopfbedeckung.
    »Angesichts der derzeitigen wirtschaftlichen Lage ist sie jedoch verunsichert und weiß nicht, welcher Partei sie diesen September ihre Stimme geben wird. Indem ich jetzt ihre Gehirnwellen aufzeichne, versuche ich, ihre psychische Reaktion auf diese Kundgebung zu messen. Sie könnte zum Beispiel abstreiten, dass Herr Hitler sie in irgendeiner Weise aufwühlt, ihre Gehirnwellen jedoch könnten etwas ganz anderes zeigen.«
    Als er die Maschine mit einem halben Dutzend Schaltern anstellte, tauchten zwei parallele Zickzackwellen auf einer Papierrolle auf. Sie bewegten sich jedes Mal, wenn das Orchester unter ihnen einen weiteren Militärmarsch anstimmte und weitere uniformierte Abteilungen eintrafen. Während der langen Pausen dazwischen zeigten sie jedoch fast keine Ausschläge. Von Hessler versicherte Frau Klopstock wiederholt, dass sie ihre Sache »einfach exzellent« machte.
    Bedauerlicherweise schien der angekündigte Sprecher, dieser Führer, einfach nicht aufzutauchen. Die beiden Linien auf dem Galvanometer wurden immer flacher. Kraus wollte sich bereits verabschieden und sich in sein behagliches Heim davonschleichen, als plötzlich gewaltiges Gebrüll vor der Halle das Gebäudeförmlich erschütterte. Mit der Gewalt eines Orkans brach der Lärm durch die Türen, erfüllte den Raum und riss die vierzehntausend Menschen auf die Füße. Sie kreischten »Heil! Heil!« Selbst Frau Klopstock, die, wie sie behauptete, keine besonderen Gefühle für Hitler hegte, musste ermahnt werden, sich nicht zu abrupt zu bewegen und damit die Drähte vom Kopf zu reißen, die von Hessler so sorgfältig dort angebracht hatte. Kraus dagegen hatte nicht unter solchen Einschränkungen zu leiden. Die Energie in der Halle war so intensiv, dass er wie alle anderen auf die Füße sprang, um den Einmarsch des Sprechers zu verfolgen.
    »Heil! Heil! Heil! Heil!«
    Umringt von einer kleinen Gefolgschaft schritt eine uniformierte Gestalt den Mittelgang hinauf. Sie hatte eine Hand erhoben, deren offene Handfläche nach oben zeigte. Das Brüllen schwoll beinahe ohrenbetäubend an. Kraus hatte noch nie so etwas gehört. Selbst bei dem aufregendsten Fußballspiel gab es keinen solchen Lärm. Die Leute kreischten, weinten, drängten sich nach vorne und streckten ihre Arme aus. Kraus war klar, dass sie keinen Politiker begrüßten, sondern einen Erlöser.
    »Mein Gott«, stammelte Fritz in Kraus’ Ohr. »Seit den messianischen Kulten des Mittelalters hat Europa so etwas nicht mehr erlebt.«
    Das Gebrüll ebbte erst ab, als der Führer der Nazipartei das Podium erreicht hatte. In der Halle breitete sich angespannte Erwartung aus. Kraus konnte das Gesicht des Mannes ganz deutlich erkennen. Abgesehen von dem zwei Finger breiten, rechteckigen Schnurrbart war kaum etwas an dem Mann besonders auffällig. Er hätte ebenso gut ein Lebensmittelhändler oder ein Postbeamter sein können. Bis auf die Augen. Selbst aus zehn Metern Höhe spürte Kraus ihr Feuer.
    In seiner braunen Uniform, den hohen, schwarzen Stiefeln und dem dicken Lederriemen über der Brust baute sich derFührer vor den sehnsüchtigen Massen auf und sagte ... nichts. Eine, wie es schien, Ewigkeit lang sah er sich im Saal um, hielt den rechten Arm mit der linken Hand fest, dann

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