Kindersucher
welche die Trottoirs überströmten, sich in den Geschäften und Kaufhäusern die Klinke in die Hand gaben, deren spektakuläre Schaufenster mit Pelzmänteln, Juwelen, Uhren, Lederwaren, den modernsten Kameras und den besten Spielzeugen nur so überquollen, fiel es ihm schwer zu glauben, dass Fritz nicht auf ein bisschen ministerielle Propaganda hereingefallen war. Aber in der Stimme seines Freundes hatte echte Angst mitgeklungen.
Oder aber er und Sylvie hatten wieder gestritten.
Als die Straßenbahn über den Fluss ratterte, unter dem fast vollen Mond, der hoch über der Stadt hing, brachten die funkelnden Kuppeln des Polizeipräsidiums in der Ferne das zwingende Rätsel dieser Knochen wieder zu ihm zurück. Die grimmigen Bilder aus seiner Erinnerung schienen sich in dem kräuselnden Wasser unter der Brücke zu spiegeln. Knochen, die wie langstielige Rosen zusammengebunden waren. Finger und Zehenknochen, einer nach dem anderen, verbunden fast wie ... Würste. Wieso hatte er nichts mehr von dem Fall gehört? Er hatte zwar nicht erwartet, dass Freksa ihn ins Vertrauen zog ... aber völliges Stillschweigen bei den Konferenzen der Abteilung? Und was war mit den Zeitungen? Das war doch genau die Art von Neuigkeit, für die sich die Berliner Presse geradezu überschlug. Aber jetzt waren fünf Wochen vergangen, und kein einziges Wort war verlautet. Seit wann scheute sich Freksa vor Schlagzeilen? Vielleicht war er mit dem Fall nicht weitergekommen. Oder aber er hatte ein Ass im ...
Der Gedankengang wurde unvermittelt unterbrochen.
Auf der anderen Seite der Spree erregte ein kleines Schild vor einer Kirche seine Aufmerksamkeit. PREDIGT HEUTE, SIEBZEHN UHR ... PASTOR H. P. BRAUNSCHWEIG. Als er das Thema der Predigt las, überlief ihn ein Frösteln. Er warf einen Blick auf seine Uhr: kurz nach fünf. Er wusste, dass er es nicht tun sollte. Es war Freksas Fall. Aber vielleicht war es, wie seine Großmutter zu sagen pflegte, Gottes Wille. Es sollte so sein. Er riss an der Glocke, damit die Straßenbahn hielt, und sprang herunter. Was hätte er sonst tun können? Das Thema der Predigt lautete »völlige Verderbtheit«.
Die evangelische Kirche auf der Spandauer Straße war nicht viel größer als eine Kapelle. Ein Dutzend Menschen verteilte sich auf den hölzernen Bänken, und alle konzentrierten sich auf die große, graue Gestalt auf der Kanzel, die beobachtete, wie Kraus eintrat.
»Man sollte nicht der irrigen Annahme verfallen«, die grauen Augen des Pastors folgten Kraus, als der seinen Hut abnahm und sich in eine der hinteren Bänke setzte, »dass diese völlige Verderbtheit oder völlige Korruption, oder, wie manche es nennen, diese völlige Unfähigkeit bedeutet, dass die Menschen vollkommen schlecht sind. O nein. Das würde bedeuten, dass man das Thema von hinten angeht. Völlige Verderbtheit ist keine Anklage. Ganz im Gegenteil: Es ist eine Bekräftigung. Eine spirituelle Betonung von Gottes Herrlichkeit.«
Hier ist es so heiß wie in der Hölle, dachte Kraus und knöpfte seinen Mantel auf.
»In Epheser zwei, eins bis drei sagt uns die Bibel: ›Und auch euch, die ihr tot waret durch Übertretungen und Sünden, in welchen ihr weiland gewandelt habt ... und taten den Willen des Fleisches und der Vernunft und waren auch Kinder des Zorns von Natur ...‹«
Schon wieder dieser Satz. Er zuckte durch Kraus’ Körper. Der graue Blick schien sich auf ihn zu fixieren, als wüsste der Pastor ganz genau, warum Kraus durch diese Türen getreten war.
»Diese Passage meint nicht, dass Menschen böse sind, sondern dass Menschen nicht in der Lage sind, Gott so zu lieben, wie Gott geliebt werden möchte. Die grundlegenden Instinkte der Menschen veranlassen sie, selbstsüchtig zu sein und Gott zu ignorieren. Aber ohne Gott ist selbst das Gute, das jemand zu tun versucht, verdorben. Nur Gott kann die Unfähigkeit des Menschen überwinden, seine völlige Verderbtheit. Durch seine göttliche Gnade können aus den Kindern des Zorns Kinder der Gnade werden.«
Kraus’ Wangen brannten.
Er wartete, bis die letzten Gemeindemitglieder hinausgegangen waren, dann trat er an die Kanzel. Der Pastor sammelte seine Notizen ein. Als er Kraus sah, senkte er seinen grauhaarigen Kopf und betrachtete ihn neugierig. »Sie sind neu hier.« Er schien zu versuchen, in Kraus’ Seele zu blicken. »Wurden Sie hierher geführt? Hat etwas von dem, was ich gesagt habe, Sie berührt?«
Normalerweise zog Kraus es vor, mit den Leuten ehrlich umzugehen. Aber
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