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Kinsey Millhone 10 - Stille Wasser

Kinsey Millhone 10 - Stille Wasser

Titel: Kinsey Millhone 10 - Stille Wasser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sue Grafton
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doch das Zimmer wirkte warm in ihrem Schein.
    In Juliets Gesichtszügen zeichnete sich ein scharfer Kontrast ab; die eine Wange in pinkfarbener Glut, die andere dunkel beschattet. Wendell Jaffes Gesicht wirkte kantig, wie holzgeschnitzt in diesem Licht, die Wangenknochen stark herausgearbeitet. Er sah hager aus. Michael wiederum hatte das Gesicht eines steinernen Engels, kalt und sinnlich. Seine dunklen Augen schienen zu leuchten. An Körpergröße konnte er es leicht mit seinem Vater aufnehmen, doch Wendell war kompakter, und es fehlte ihm Michaels Anmut. Zusammen gruppierten sich die drei zu einem Bild, das etwas Theaterhaftes hatte.
    »Hallo, Wendell. Tut mir leid, daß ich stören muß. Erinnern Sie sich an mich?«
    Jaffes Blick flog zu Michael. Er machte eine Kopfbewegung in meine Richtung. »Wer ist das?«
    Michael hielt den Blick zu Boden gerichtet. »Eine Privatdetektivin«, antwortete er. »Sie hat vor ein paar Tagen mit Mutter über dich gesprochen.«
    Ich winkte Jaffe nonchalant zu. »Sie arbeitet für die Versicherungsgesellschaft, die Sie um eine halbe Million Dollar betrogen haben«, warf ich ein.
    »Ich?«
    »Aber ja, Wendell«, versetzte ich in scherzhaftem Ton. »So merkwürdig es klingt, das ist der springende Punkt bei einer Lebensversicherung. Daß man tot ist. Aber Sie haben die Vereinbarung bis jetzt nicht erfüllt.«
    Er sah mich mit einer Mischung aus Mißtrauen und Verwirrung an. »Ich kenne Sie doch irgendwoher?«
    »Wir sind uns im Hotel in Viento Negro mal begegnet.«
    In einem Moment des Erkennens saugte sich sein Blick an mir fest. »Waren Sie das, die in unser Zimmer eingebrochen ist?«
    Ich schüttelte den Kopf und fabulierte. »Nein, nein, ich doch nicht. Das war ein ehemaliger Bulle namens Harris Brown.«
    Er schüttelte den Kopf bei dem Namen.
    »Er ist Lieutenant bei der Polizei. Oder war es.«
    »Nie von ihm gehört.«
    »Aber er hat von Ihnen gehört. Er hat Ihren Fall zugeteilt bekommen, als Sie verschwanden. Dann wurde er ihm aus unbekannten Gründen wieder entzogen. Ich dachte, Sie könnten das vielleicht erklären.«
    »Sind Sie sicher, daß der Mann mich gesucht hat?«
    »Ich glaube nicht, daß seine Anwesenheit dort Zufall war«, sagte ich. »Er hat in drei-vierzehn gewohnt. Ich in drei-sechzehn.«
    »Hey, Dad? Könnten wir das jetzt vielleicht mal fertig besprechen?«
    Brendan begann unruhig zu werden, und Jaffe tätschelte ihn ohne viel Erfolg. Er nahm einen kleinen Stoffhund und spielte mit ihm vor Brendans Gesichtchen herum, während er das Gespräch fortsetzte. Brendan packte das Tier bei den Ohren und zog es zu sich heran. Er zahnte anscheinend gerade, denn er nagte mit der gleichen Begeisterung an dem Hündchen, mit dem ich mich auf Brathuhn stürze.
    Jaffe führte das Gespräch offensichtlich an dem Punkt fort, an dem es durch mein Erscheinen unterbrochen worden war. »Ich mußte weg, Michael. Das hatte mit dir nichts zu tun. Es war mein Leben. Es ging um mich. Ich hatte mich so tief hineingeritten, daß es keine andere Möglichkeit gab, damit fertig zu werden. Ich hoffe, du wirst das eines Tages verstehen. Die sogenannte Gerechtigkeit existiert in unserem Rechtssystem nicht.«
    »Ach, hör doch auf. Erspar mir dieses Gelaber. Wo sind wir hier eigentlich? Im sozialwissenschaftlichen Seminar? Hör einfach auf mit dem Scheiß und erzähl mir nichts von Gerechtigkeit. Du bist ja nicht lang genug geblieben, um herauszufinden, was es damit auf sich hat.«
    »Bitte, Michael. Nicht so. Ich will nicht streiten. Dazu ist keine Zeit. Ich erwarte ja gar nicht, daß du mit meiner Entscheidung einverstanden bist.«
    »Es geht nicht nur um mich, Dad. Was ist mit Brian? Er hat das alles ausbaden müssen.«
    »Ich weiß, daß er abgerutscht ist, und ich tue, was ich kann«, versetzte Jaffe.
    »Brian hat dich gebraucht, als er zwölf war. Jetzt ist es zu spät.«
    »Da bin ich anderer Meinung. Du täuschst dich, glaub mir.«
    Michael verdrehte die Augen. » Dir glauben, Dad? Weshalb sollte ich dir wohl glauben? Ich werde dir niemals glauben.«
    Jaffe schien Michaels harter Ton aus der Fassung zu bringen. Er mochte es nicht, wenn man ihm widersprach. Er war es nicht gewöhnt, daß sein Urteil angezweifelt wurde, und schon gar nicht von einem Jungen, der siebzehn gewesen war, als er sich aus dem Staub gemacht hatte. Michael war inzwischen erwachsen geworden; ja, hatte in der Tat die Lücke gefüllt, die sein Vater hinterlassen hatte. Vielleicht hatte Jaffe geglaubt, er könnte

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