Klemperer, Viktor
russische Offensive. Sie ist furchtbar über Deutschland hereingebrochen: Warschau, Krakau, Lodz, Czenstochau sind genomen, die oberschlesische Grenze ist erreicht. Über 150 Divisionen seien gegen uns eingesetzt, heißt der Bericht; vielleicht übertreibt er die Zahl, um die Niederlage zu verklären .. Gewitzigt durch die Vorgänge im August, dränge ich noch alle Hoffnung zurück. Es muß sich erst zeigen, ob das ungemein rasche Zurückgehen der Deutschen wirklichen Zusamenbruch bedeutet. Noch halte ich es für strategische Überlegung: man wird die Russen in den vorbereiteten Grenzstellungen auffangen, wie man es im August mit ihnen in Ostpreußen u. mit den Angloamerikanern im Westen getan hat. Und das Wann u. Wie des Kriegsendes ist immer noch unabsehbar.
Zwar * Steinitz erzählt: * Jacobi habe neulich in einen öffentlich[en] Luftschutzkeller gemußt u. auf der Schwelle gezögert. Man habe ihn aber freundlich aufgenomen, u. ein Arbeiter habe gerufen: Komdoch rein, Kamerad! J.: Das dürfen Sie aber nicht sagen. Der Arbeiter (laut): Alle sind wir Kameraden – u. bald werden wir es auch wieder laut sagen können. Aber ähnliche Scenen höre u. erlebe ich auch selber seit zehn Jahren – u. immer hat es bald geheißen, u. immer ist man enttäuscht worden. –
Eben kommt * Frau Cohn: es gebe Kohlen bei * Hesse, wahrscheinlich einen halben Ctr.
Nachmittags . Gleich gab es das peinlichste Gegenstück zu Jakobys Erlebnis; was ist nun vox populi? Beim Kohlenhesse war ein ganzer Centner Briketts zu haben; das bedeutete drei Zwei-Eimer-Gänge, verschärft durch fürchterliches Glatteis. Ich trug die ersten hochgetürmten zwei Eimer in den Keller, die zweite Ladung zu uns herauf. Indem, etwa 11 50 gab es Alarm. Da es danach ruhig blieb, getraute ich mich, ohne die Entwarnung abzuwarten, noch einmal zur Salzgasse. Ich erreichte mit den letzten zwei Eimern unser Haus, da kam Vollalarm. Während ich unsern Keller aufsuchte, standen draußen im Hof die gefangenen Russen, starrten nach oben u. drängten sich dann in den Gang vor unserem Kohlenkeller. Viel, viel, rief mir einer zu. (Es waren 46 Flugzeuge über uns, * E. hat von * * Windes aus ihre Condensstreifen gezählt. Sie überflogen Dresden nur, man hörte wieder kein Flakgeschütz.) Ich war erregt u. sehr müde, ging also mit den leeren Eimern am Treppenabsatz vorbei zu * * Waldmanns hier unten gelegener Wohnung. Daß deren große Diele den arischen Luftkeller des Hauses vorstellt, wußte ich nicht. Allerhand Leute standen da, ich drückte mich still in eine Ecke. Gleich kam eine kleine schwarzhaarige Frau auf mich zu: Sie dürfen sich hier nicht aufhalten! (Es soll ein besonders übles Weib sein, von dem schon mehrere Denunziationen ausgegangen sind, eine Frau * Kindscher, genannt das schwarze Aas) Unmittelbar darauf wandte sich auch schon der alte * Leuschner an mich: Was machen Sie hier? Ich zeigte auf meine beiden leeren Eimer, sagte, ich hätte Kohlen geholt u. müßte nur einen Augenblick Luft schöpfen, schleppte mich dann unter heftigsten Anginaschmerzen zu uns hinauf. Dann blieb ich hier, sehr mitgenommen, körperlich u. seelisch. Es erfolgte nichts weiter, u. genau eine Stunde nach dem ersten Signal kam die Entwarnung. Ich bin sehr deprimiert: der Schmerzanfall war Quittung über Anstrengung u. Erregung – jede kleinste Erregung greift mir so nach dem Herzen, ehe ich sie noch gedanklich auch nur spüre, ehe ich sie also im geringsten willentlich abwehren kann – u. in seiner Heftigkeit war er wieder ein bitterstes Memento. –
E. kam gehetzt von Windes zurück, sie mußte mit dem ½ 4 Zug nach Pirna, das erstemal seit drei Monaten. Beim Zurechtmachen des Ms-Paketes quälte mich wieder die Frage, ob ich jemals etwas von all dem Gespeicherten werde ausnützen können. Aber daran darf ich natürlich nicht denken, wenn ich nicht in vollkomenes Nichtsein versinken will.
* Wilhelm Pleyer: Till Scheerauer. Roman Verlag Alexander Duncker Leipzig 1932.
Scheerau wird als das Schilda Westböhmens angegeben. Der Held, Andreas x x x führt von früh auf den Spitznamen zur Bezeichnung seiner Doppelnatur: er ist ein seltsam unpraktischer Mensch (Künstler, lebensgierig u. gewissenbedrängt) u. ist ein Eulenspiegel. Ich kannte Pleyer bisher nur als Regionalisten u. Humoristen der bescheidenst u. flachsten Art (Der Gurkenbaum[], Tgb 26/9 44). Als solcher tritt er auch hier auf, vor allem im ersten u. – relativ – besten Teil der Ich = u. Entwicklungsgeschichte.
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