Klemperer, Viktor
Steckbriefbeschreibungen u. Gespräche unter russischen Literaten.
Jetzt aber schwelgen wir in dem Chinabuch von * Nora Waln 4 (The House of Exile – deutsch Süße Frucht, bittre Frucht – China) das uns * Annemarie zum Geburtstag geschenkt hat. Tagebuch, nicht Roman. Ergänzung zur * Buck aus anderer socialer Schicht (Ein Patrizierhaus)
26. Oktober. Sonnabend .
Sehr plötzlich bildete sich bei * E. ein Zahna Zahnabsceß u. mußte heute geschnitten werden. Ekelhaftes Intermezzo. – Bei mir gleichbleibende Herzbeschwerden. –
Sprache des 3. Reichs: * Will Vesper, 5 Landesleiter der Reichsschrifttumskamer Sachsen, zur Bücherwoche, Dr. N. N. 26. X: * ‹Mein Kampf› ist das heilige Buch des Nationalsozialismus u. des neuen Deutschland. Man muß es durchleben, jeder muß es besitzen, der ärmere Volksgenosse muß es billiger bekommen. – –
* Annemarie erzählte neulich: neue Form des religiösen Wahnsinns. Eine Kranke wird in Heidenau eingeliefert, man fragt gleich, ob sie nicht eher ein Fall für die Irrenanstalt sei. Ich ging hinunter, sie ansehen. Sie saß mit verzückten Augen u. sagte schwärmend: ‹Ich weiß, wem ich gehöre; ich gehöre * Adolf Hitler› Darauf gab ich dem Chauffeur des Krankenhauses Befehl: Fahren Sie sie gleich weiter zum Sonnenstein! 6 –
* Karl Wieghardt gestern mit * Mutter bei uns. Abschiedsvisite. Er wird in Göttingen studieren. Er wollte eigentlich an die Univ. Berlin. Dort werden nur solche Studenten immatrikuliert, die der NSDAP. mit Mitgliedsnummer unter einer Million angehören.
– Es hat einen ungemeinen Eindruck auf mich gemacht, daß ich heute in der Löbtauerstr. das erstemal seit dem Kriege zwei Butterschlangen sah. Sie könnten vielleicht doch Laokoon- * Hitler 7 ersticken.
31 October Donnerstag .
Encyklop vollkommen fertig, in der Maschine. Jetzt mindestens ein Monat Lectüre für * Diderot. * Rosenkranz 1 begonnen. Könnte ich nicht durch die Maschine mir gewissermaßen den Druck ersetzen, das völlige Loslösen u. Objectivieren, dazu mir die Hoffnung geben, daß dieser ganz fertige u. lesbare Text auch ohne mich u. nach mir publiciert werden kann – ich glaube, so ertrüge ich diese Zeit nicht, brächte jedenfalls nicht die Concentration zum Schreiben auf. In der Meinung über den Wert u. die Originalität meiner Arbeit schwanke ich täglich mehrmals zwischen völligem Bejahen u. völligem Verneinen. –
Die Herzbeschwerden beim Gehen werden immer intensiver. Kein Tag, an dem ich den Tod nicht vor Augen habe. –
Am Sonntag Nachm. waren die * * * 3 Isakowitz bei uns. * Frau I. ist eine Woche in London gewesen; es besteht für ihren Mann die Möglichkeit zahnärztlicher Zulassung ohne Examen in England. Sie erzählte, die Rabbiner predigten von den Kanzeln den Boykott deutscher Waare; sie wendeten sich an die Frauen: Daß Eure Männer für die Fabrik keine Maschinen aus Deutschland beziehen, ist natürlich; aber Ihr sollt kein deutsches Odol oder ähnliches Toiletten- u. Wirtschaftszeug kaufen! Ihre christliche Wirtin sagte ihr in Bezug auf * H.: And there ist nobody who kills this big swine? 2 Man sage, wir seien von Irrsinnigen regiert, seien völlig brankrott – es könne nicht mehr lange dauern. Man zahlt für 1
tb
: zwanzig Mark – offiziell ist der Curs 14 M. –
Aber am Donnerstag Dienstag waren wir auf dem Bahnhof zwanzig Minuten mit * Marta zusamen, die nach Prag fuhr: Stimmung der Berliner Juden trostlos: Wir erleben nicht das Ende dieser Tyrannei, das Volk hängt begeistert am Führer.[] – Dabei wilde Gerüchte: * Martas Jüngster war Knall u. Fall nach Prag, weil es allgemein hieß, in den nächsten Tagen würden die Grenzen gesperrt, es gebe Krieg. Gegen wen – unbestimmt, aber bestimmt Krieg! (Und so lebt ein europäisches Volk 1935!) Weiter: H. habe bestimmt Kehlkopfkrebs, 3 er flüstere nur, den Donner seiner Rede erzeuge der Lautverstärker. –
Gestern Abend – es bekam uns beiden sehr schlecht – bei den * * * * anständigen Köhlers. Hier als Volksstimmung: absolute Ungewißheit angegeben: es könne über Nacht zusamenbrechen, es könne noch Jahre dauern. Aber Neigung zum Pessimismus.
Scene in einem kleinen Tell-Schokoladengeschäft, Wettinerstr., gestern. Der ältlichen Verkäuferin schnattert die Gans aus den Augen. Vor ihr ein schwerer, dicker Herr, Fünfziger, gut aussehend, breitester Ostpreußendialekt, ruhige gebildete Stimme, Parteiabzeichen am Rockaufschlag. Das ist viel zu teuer, bei Cosa ist es
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