Klemperer, Viktor
der Dunkelheit und den blendenden Lampen der Entgegenkommenden. Radebeul und die Leipziger Strasse waren sehr anstrengend. Um acht zum Essen am Bahnhof, um neun zu Haus. Beide sehr aufgelöst und abgekämpft. * E. schlief schon um 10, eine halbe Stunde danach lag ich auch. Wir waren nicht mehr als 150 km. gefahren, aber das Ganze gehört zu unsern anstrengendsten Unternehmungen. Mit alledem bleiben wir dabei, dass im Punkt Auto die Lustemotionen denen der Unlust überlegen sind, und immer hoffen wir, mit der Zeit durch bessere Kenntnisse die Peinlichkeiten herabmindern zu können.
Den Abend zuvor (Donnerstag) zu einem vielgerühmten Film im Universum: Allotria. 1 Enttäuschung. Gute Schauspieler in komischen Rollen ( * Wohlbrück, * Rühmann, 2 * Renate Müller, * Jenny Jugo[)], auch e[i]nzelne amüsante Scenen, aber das ganze allzu nichtig und ohne jeden menschlichen Gehalt. Die ältesten Schwankverwicklungen vorehelichen Irrens, [v]erwechselter Schlafzimmer usw., ganz äusserlich modernisiert durch ein Autorennen. Über genau solche Sachen, die auf französische Recepte von 1860 etwa zurückgehen, hat sich im Anfang des Jahrhunderts * Vater im Residenztheater gesund gelacht. Das dritte Reich hat so etwas jüdische und unsittliche Unkunst genannt. Aber jetzt ist das ein deutscher Meisterfilm. – Wieder sah man Bilder vom roten Terror (cf. oben die Scene am Steinbruch.)
9. September, Mittwoch gegen Abend.
Den ganzen Tag ergebnislos am ersten Capitel * Rousseau gesessen. Heisser Kopf und völlige Depression. Um so schlimmere, als ich mir immer wieder sagen muss, dass all diese Mühe zwecklos ist. Was liegt daran, ob ich einen Manuscriptstoss mehr oder weniger im Schreibtisch liegen habe. Das N.S.-Régime sitzt fester als je; eben triumphiert man in Nürnberg: Parteitag der Ehre und macht Päne für die Ewigkeit. Und alle Welt innen und aussen duckt sich. Die jüdischen Kulturbünde 1 (man sollte sie hängen) haben eine Erklärung abgegeben, sie hätten nichts mit den ausländischen Hetznachrichten über die Lage der deutschen Juden zu tun. Nächstens werden sie dem Stürmer bescheinigen, das er lautere Wahrheit in liebevollster Weise veröffentlicht. – In Spanien wütet der Bolschewismus, und bei uns ist Friede, Ordnung, Gerechtigkeit, wahre Demokratie.
Am Sonntag waren wir wieder auf längerer Fahrt. So schlecht der Wagen zwei Tage zuvor gelaufen war, so gut hielt er sich diesmal. 154 km. in raschem Tempo (oft 70 km.) ohne alle Hemmungen. Wir fuhren um 11 hier weg und fast ohne Aufenthalt die schöne Strecke von neulich: Radebeul, Meissen – beginnende Herbstfarben – Oschatz. Dort sind wir bisher immer auf der grossen Aussenstrasse geblieben. Diesmal in den Ort selber und auf dem Markt geparkt. Hoch über dem grossen rechteckigen Platz erhebt sich an einer Schmalseite auf höherer Geländestufe eine wahrhaft riesige Kirche. Ihre beiden Türme sind nur in den aufgesetzten Pyramiden durchbrochen, aber die mächtigen eckigen Steinbauten, auf denen sie stehen, wirken selber wie venetianische Filigranarbeit, da sie aus hellgrauen und rosa Felsstücken, die roh zwischen weissen Mörtelstreifen stecken, sehr capriciös gefügt sind. Innen wirkt der Bau merkwürdig kahl. Er hat schöne bunte Fenster, und auch das Altarbild ist eine tiefleuchtende Glasmalerei, aber das alles kommt gegen die protestantische Kahlheit der Wände nicht auf. Zumal alle Seitennischen und -Galerien fehlen und eine einzige durchgehende Galerie an der hinteren Schmalseite die Dreischiffigkeit für den Blick aufhebt. Das Ganze sieht innen wie eine etwas plumpe ungegliederte Versammlungshalle aus. Aber von aussen wiegesagt ist der Bau imposant, man sieht die Türme von weither und da machen sie eben einen ganz venetianischen Eindruck. Hübsch und eigenartig ist noch, wie neben der Kirche das Rathaus den Niveauunterschied zwischen Markt und oberem Kirchplatz (mit mächtigen stark rauschenden Bäumen) ausgleicht. Das Rathaus mit Barockfacade steht an der Marktecke selber; es hat einen schlanken Seitenturm, der auf dem Boden des Marktes selber ansetzt und hier zum Thorweg durchbrochen ist, durch den man zum Kirchplatz hinaufsteigt. Nach langer Besichtigung sassen wir lange bei * Zierold. Dann fuhren wir auf schmaleren aber guten Wegen ein Dutzend km. durch die Ebene zu dem fast unvermittelt aufsteigenden Oschatzer Kulm, den wir oft von weitem gesehen haben. Der Waldhügel trägt eine Erdbebenwarte; so nahmen wir an, es werde ein Fahrweg
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