Klemperer, Viktor
hinaufführen. Fehlanzeige, aber die Fahrt bis an den Fuss war hübsch und führte an ausgedehnten militärischen Neubauten vorbei. (Hic et ubique, zur Wahrung des Friedens natürlich.) Von hieraus nach Döbeln. Als wir gegen 5 dort ankamen, waren wir schon ein bisschen abgekämpft. Wir sahen uns auch hier pflichtgemäss um, aber alles schien uns nüchtern und physiognomielos. Doch liess ein grosses modernes Rathaus auf ziemliche Grösse des Ortes schliessen. Von Döbeln bin ich dann in einer manchmal unvorsichtigen Geschwindigkeit über Nossen, Wilsdruff, Kesselsdorf zurückgefahren. Um ¾ 7 zu Haus, sehr und allzumüde. * E. war um ½ 9 im Bett, ich nicht viel später. – Anderntags recht zerschlagen. Wir brauchten uns nicht erst vorzunehmen, in nächster Zeit weniger anstrengende Fahrten zu machen: äusserster Geldmangel zwingt uns sowieso zur Benzinsparsamkeit. Übrigens ist inzwischen auch ekelhaftes Regen- und Sturmwetter geworden.
Wir sassen heute den ganzen Tag wie gefangen zuhause; vielleicht werden wir nach dem Essen ins Kino fahren.
14. September, Montag.
Wir waren nicht im Kino; die ganze Woche über belief sich der Wagenverbrauch auf 29 km., gestern die Sonntagsfahrt wurde auf 52 km. beschränkt. 100 km. = 12 l. Benzin + ¾ l Öl = ca. 5,20 M. Wir sind so herunter und so qualvoll von grossen Zahlungen bedrückt (Casco mit 108 M. ist die schlimmste, dazu die erbitternden Kirchensteuern, 2 der * Za[h]narzt usw.) dass wir mit jedem Pfennig rechnen und immer trostloser rechnen. Ich will den Versuch machen, ob ich noch eine Hypothek von 1–2 000 M. erhalte. Das würde die Lebensversicherung retten, den Terrassenbau durchführen lassen u. die ärgste Verlegenheit u. Enge beseitigen. Nur: auf wie lange? – Und wer wird das Häuschen für tragfähig genug halten?
Zur Geldnot tritt immer wieder und immer verschärft (nicht abgestumpft) das Grässliche der politischen Lage. Was der Parteitag der Ehre an Paroxysmen und irrsinnigen Lügen der Judenhetze in den Reden * Hitlers, * Göbbels und * Rosenbergs aufgebracht hat, übersteigt jede Vorstellung. Man denkt immer, es müssten sich doch irgendwo innerhalb Deutschlands Stimmen der Scham und Angst erheben, es müsste ein Protest aus dem Ausland kommen, das überall (auch Italien, der Alliierte!) Juden auf höchsten Posten sitzen hat – nichts! Bewunderung für das dritte Reich, für seine Kultur, zitternde Angst vor seinem Heer und seinen Drohungen.
Trotz allem und trotz unserer furchtbaren Verlassenheit von allen Freunden war der gestrige Sonntag tröstlich. Am Vormittag schaffte ich den sehr schweren Grundzüg[e]abschnitt meines * Rousseau und damit den gefürchteten Auftakt des zweiten Bandes. Gewiss war sogleich wieder die Bitterkeit über die Aussichtslosigkeit der Arbeit da; aber dies ist doch nun wieder geschafft, es ist ein Fertiges da, das wartet; vielleicht geschieht ein Wunder – von mir aus bin ich dann wenigstens bereit, ich habe ihm den Stoff zurechtgelegt, an dem es für mich wirksam werden kann. Und auf alle Fälle: ich habe doch wieder für mich den Beweis geführt, dass ich noch producieren kann. Und wieder schwöre ich es mir aufs feierlichste, unter allen Anfechtungen weiterzuarbeiten. (Ich werde heute und morgen Maschinencopie nehmen und dabei durchfeilen.) – Sodann war am Nachmittag die kleine Fahrt besonders schön. Nach böser Regenzeit haben wir jetzt zwar anormal kaltes aber herrlichstes Herbstwetter. Wir fuhren auf der Kipsdorfstrecke bis zu dem kleinen See, dann rechts ab eine Waldstra[s]se nach Ölsa, einem winzigen Dorf; von da auf holprigen Wegen (und gegen blendende Sonne nach dem[ m ] überraschend grossen und überraschend hochgelegenen Seifersdorf. Jetzt begann der eigentliche Genuss: linksab hinunterrollend hatten wir bald die Maltersperre im Überblick unter uns. Stahlfarben, ausgezipfelt, belebt von Segelbooten einem grossen Motorboot. Unten bei einer Zipfelbrücke hielten wir, stiegen aus und sahen uns eine Viertelstunde lang Landschaft und Verkehr an. Boote auf dem Wasser, Angler, an den Ufern, Auto nach Auto, Radler dazwischen auf der hohen Strasse. Das Landschaftsbild nicht so bedeutend wie in Kriebstein oder bei Frauenstein – auf dem gegenüberliegenden Ufer ist zuviel kahle Wiesen und Ackerfläche, die Waldumrandung zusehr unterbrochen, aber Waldung und Gehügel und Felsnasen in das Wasser hinab und geahnte Abzweigungen und eben der See selber sind doch da. – Durchfroren und zufrieden um ½ 6
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