Klemperer, Viktor
weiter: bei Dippoldiswalde auf die grosse Strasse und zurück. Ich wagte endlich einmal einen Weg, vor dem mich * Luthe, der Fahrlehrer gewarnt, der mich immer gereizt, und den ich neulich einmal zu Fuss studiert hatte: bei einem Steinbruch an der Tharandter Strasse führt ein Weg sehr stei[l] mit scharfen Curven in das obere Dorf hinauf; ich kam glatt durch, freilich musste ich den ersten Gang schalten.
Abends lange vorgelesen. Wir haben jetzt seit einer Weile Glück mit unserer Lektüre; zwei gute Bücher hintereinander, das kommt selten vor. Zuerst * Sherriff 1 – (Das Kriegsstück, der Kriegsroman Die andere Seite) –: Badereise im September[] (The fortnight in September). 2 Vierzehn Urlaubstage des Buchhalters Stevens und seiner Familie in Bognor bei London. Kleinbürgerliche Verhältnisse, durchaus Durchschnittliches und doch ganz individuelles Leben; der Ablauf dieser 14 Tage und doch die Vergangenheit und Zukunft der ganzen Familie in ihrem bescheidenen Aufstieg; überall Komik und Heiterkeit und doch Melancholie darunter und ein paarmal Anstreifen ans Tragische – Frau Hugget, die Inhaberin der verfallenden Pension, der letzte Urlaub, den die erwachsenen Kinder noch ganz mit den Eltern verbringen werden, zerstörte Hoffnungen und Illusionen ... Sehr englischer und sehr milder Humor. – Jetzt stehen wir im Anfang des grossen weitgespannten Romans Triumph der Zeit von * Storm Jameson. 3 Darüber werde ich, wenn irgend möglich wohl genauere Notizen machen müssen. Hier ist der englische Humor mehrfach etwas archaisch, * Dickensartig betont – * Eva sagt sehr zutreffend: auch * Shakespeareartig und vergleicht den Kutscher im Anfang mit Sh.s Totengräber. Aber das Ganze ist doch unaffektiert mit grossem epischem Athem geschrieben, nein, sondern erzählt. Die Geschichte einer Frau die 1841 geboren wird, die Geschichte einer Werft – es scheint sich zu einer Sozialgeschichte des viktorianischen England zu weiten.
Sprache des 3. Reichs: Der deutsche Lustspielfilm marschiert
Sonntag, 27. September.
Der neueste Vorstoss des * Bürgermeisters: B Erregung öffentliches Ärgernisses durch den Zustand meines Gartens. Schreiben und Antwort liegt hier bei. 1 Die Sache erbittert und beängstigt mich seit gestern dermaßen, dass alles andere dagegen zurücktritt. Wir sind so mittelalterlich hilflos ausgeliefert.
Ich dachte heut früh beim Aufwachen mit Entsetzen über meine eigene Herzenskälte, dass mich dieser Schlag viel mehr angreife und occupiere als * Wallys trostloser Zustand. Nach vier Monaten schweren Leidens und Fieberns – in der letzten Zeit war immer von einem Leberleiden die Rede – hat man ihr jetzt die Gallenblase entfernt. Ich hielt Wally für fraglos verloren, erwartete mit jeder Post die Todesnachricht und fragte mich nur immer, ob das Geld zu einer Autofahrt nach Berlin reichen würde. Es war mir schon eine fixe Idee, ich sah den Wagen vor dem Friedhofsthor, so wie bei * Felix Begräbnis das Auto der verwitweten * * Frau Rechtsanwalt Klemperer dort stand. – Nun schreibt * Marta heute morgen, die Operation sei gut verlaufen und es bestünde alle Hoffnung. Freilich sind in den letzten Monaten erst * Mutter Köhler und dann der * Professor Raab wenige Tage nach gut verlaufener Operation gestorben, beide viel jünger als Wally.
Wir hatten * Lilli Jelski de Gandolfo 2 am 17. und 24. Sept. auf ihrer Reise [ von ] nach und von Prag bei uns. Was ich im Brief an ihren * Bruder Walter gestern schrieb, ist keine höfliche Lüge. Lilli hiess bei uns früher die Seekuh und nach ihrer Uruguay-Heirat: Die Überseekuh. * Eva pflegte zu sagen: Für Südamerika mag es ausreichen. Nun waren wir beide über ihr zugleich bescheidenes und sicheres, verinnerlichtes und vielfach interessiertes Wesen sehr erstaunt und erfreut. Der Contakt war vom ersten Augenblick an gegeben. Sie klagte über ihre sehr böse Kindheit bei dem ständigen Zwist der Eltern. * Ihr Mann studierte mit einem Stipendium seiner Regierung in Berlin Musik, sie hatten wohl ein mehrjähriges Liebesverhältnis. Sie selber war als Sekretärin bei seiner Gesandtschaft beschäftigt. Er fand in seiner Heimat einen vorläufigen Unterschlupf als Bureau-Angestellter und liess sie nach einem Jahr nachkommen. Sie sind jetzt drei Jahre verheiratet, und * L. ist das erstemal wieder bei den * * Eltern. Welche Blutmischung, wenn sie einmal Kinder hat! Der Mann väterlicherseits Italiener, mütterlicherseits Spanier – es ist nicht ganz sicher, ob
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