Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Klemperer, Viktor

Klemperer, Viktor

Titel: Klemperer, Viktor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die Tagebücher
Vom Netzwerk:
nicht aus der Garage genommen, heute fr[ei]lich des grässlichen Regensturmwetters halber nicht. (Erntedankfest heute, Gebrüll von Lautsprechern, Bückeberg 3 – da hat der Regen sein Gutes.)
    Auch letzten Sonntag aus Sparsamkeit nur ganz kurze Fahrt, aber eigentümlich interessant. Wir gerieten halb zufällig auf die neue Reichsautobahn Wilsdruf[f]–Dresden, kaum eine Stunde nach ihrer Freigabe. Man sah noch Fahnen und Blumen des Festaktes vom Vormittag, eine Unmenge Wagen schob sich langsam im Besichtigungstempo vorwärts, nur ab und zu probierte man grössere Gesc[h]windigkeiten. Prachtvoll dieser gerade Weg, der aus vier abgesetzten Breiten besteht, aus je zwei überbreiten Einbahnstrassen nebeneinander, ein Rasenstreifen zwischen den beiden Richtungen. Und Brücken für Überquerer. Auf diesen Brücken und an den Rändern drängten sich die Zuschauer. Ein Corso. Und ein herrlicher Blick, wie man gerade auf die Elbe und die Lössnitzhügel in der Abendsonne zufuhr. Wir fuhren die ganze Strecke hin und zurück (zweimal 12 km.), ich wagte ein paar mal 80 km. Geschwindigkeit. Ein grosser Genuss, aber welch ein Luxus, und wieviel Sand in die Augen des Volkes. An hunderten von Bahnübergängen im Strassenniveau geschehen immerfort Unglücksfälle, tausende von wichtigen Verkehrswegen sind im schlimmsten Zustand, überall fehlt es an Radlerwegen, die mehr Unglück verhüten würden als alle Verschärfung der Strafbestimmungen. Dies alles bleibt ungebessert, denn es würde ja nicht in die Augen fallen. Dagegen DIE STRASSEN DES FÜHRERS!
    Die ganze Woche über habe ich an dem kleinen Abschnitt: Der Musiker * Rousseau geschrieben und ihn heute beendet. Nie ist mir ein Opus so geglückt wie dieses Dixhuitieme. 4 Und nie werde ich es publizieren können.
     

 
    9. Oktober 36. Freitag
    Dies mag wohl der böseste Geburtstag meines Lebens sein.
    Am Morgen teilte mir * Marta mit, dass * Wally, die nach schwerer Operation für gerettet galt – es hiess Gallenblasen-Entfernung, war aber doch wohl Krebs – für verloren gelte; man hat sie aus der Klinik nach Haus befördert, * Lotte, die Ärztin, aus der Schweiz zurückgerufen, wird sie zuende pflegen.
    Am Vormittag auf der Bibliothek teilte man mir schonend mit, dass ich als Nichtarier den Lesesaal nicht mehr benutzen dürfe. Man wolle mir alles nach Hause oder in den Katalogsaal geben, aber für den Lesesaal sei ein officielles Verbot erlassen.
    Am Nachmittag waren wir in Tolkewitz zur Einäscherung * Breits, dessen Tod wir ganz zufällig erfuhren: * Frau Lehmann hatte auf einer andern jüdischen Aufwartestelle davon gehört. Bei dieser Leichenfeier, der sehr viele Menschen beiwohnten, die meisten mit dem Cylinder auf dem Kopf, nur ganz wenige unbedeckte tapfere Christen, so * Gehrig (übrigens war auch * Frau Kühn dort), hier also hatte ich eine direkte Erhebung. Statt eines Geistlichen sprach in erster Linie ein befreundeter Berliner Justizrat (Hut auf dem Kopf und also auch ich, obwohl * Breit Protestant war, und ich es auch bin), * Magnus. Der Anfang war eine Copie des geistlichen weinerlichen Tons, aber dann kam der Mann in Fahrt und sprach in seiner Weise. Er sprach so, dass keines seiner Worte einem Spitzel hätte dienlich sein können, und dennoch so, dass * Gerstle, der neben mir stand, mir hinterher zuflüsterte: Der hat es sich mal von der Seele gesprochen! Tags zuvor war eine Verfügung erschienen, die alle juristischen Werke der Nichtarier aus den Bibliotheken entfernt und ihre Neuauflage verbietet. Breit aber, früher Prüfender im Assessor-Examen, hat viel wichtige Schriften veröffentlicht. Der Redner betonte immer wieder, wieviel er dem DEUTSCHEN Recht gegeben habe, und wie er immerfort gegen Formalismus für lebendiges deutsches Recht eingetreten sei, und wie das überall anerkannt worden sei und [ a ]gewirkt habe, und wie die ZUKUNFT das werten werde. Was mich aber wie ein Schlag aufs Herz traf und aus meiner Depression aufriss, war eine Schlusswendung, in die der Mann wohl gegen seinen Willen hereingerissen wurde: Kann * dir die Hand nicht geben, dieweil ich eben lad ... ich meine – in diesem schweren Kampf mit der Zeitlage – sind wir alle – bin ich – ich meine .. nun eben: kann dir die Hand nicht geben, 1 dieweil ich eben lad, bleib du im ewgen Leben mein guter Kamerad! Es riss mich wahrhaftig hoch, und ich schwor mir zu: es wird weiter geladen, einerlei, ob man ein juristisches Buch schreibt oder die Geschichte der franz. Aufklärung, wer

Weitere Kostenlose Bücher