Klemperer, Viktor
finde man einen Posten. Spiegelberg, der keine Ahnung hat, in welcher Geldnot ich mich befinde – wie sollte er? draussen wartete ja unser Auto – predigte mir immer wieder: Reisen Sie nach Italien, reisen Sie nach USA, es kostet nicht viel, verkaufen Sie ein Papierchen, was warten Sie, bis es zu spät ist? Er weiss nicht, dass ich kein Papierchen habe. Auch ist es uns beiden immer wieder fraglich, ob wir uns nicht doch bis zum allerletzten, selbst bis zum Zu spät hier halten sollen. Sp. erzählt aus der Schweiz, dort glaube man an keine Änderung in Deutschland ohne Krieg. Aber der Krieg werde noch eine Weile auf sich warten lasse[n], da die internationale Waffenindustrie noch zu gut an der allgemeinen Aufrüstung verdiene ... Ein alter Amtsgerichtsrat erzählte, * Göbbels habe eben in der Europäische[n] Revue 5 einen Aufsatz veröffentlicht, die NSDAP wisse, dass kein politisches System von Dauer sein könne, sofern es im geringsten auf Lüge gestützt sei; deshalb hätten sie die Nazis niemals auch nur die kleinste Lüge gebraucht ... Dann war mir noch sehr und traurig interessant in * Toni Gerstle, die ich immer für einen kühlen Kopf gehalten habe, eine fest überzeugte Anhängerin der Astrologie zu finden. Sie glaube an Sternstellungen, Es habe noch immer gestimmt. Sie war halb gekränkt und halb mit Verachtung geladen, dass mein flacher Rationalismus diese Dinge anzweifle. Die Vernunft sei doch ohnmächtig, Einflüsse der Gestirne, vielleicht auf die Stunde unserer Zeugung etwas absolut Gewisses. Soll ich mich wundern, wenn * Hitler den Intellektualismus bekämpft und auf das Blut schwört? Was tut die * Tochter des jüdischen * Reichsgerichtsrates anderes? Und worin unterscheiden sich die Zionisten von den Nazis? Die Leute gehen mit der Vernunft um, als wenn sie das Nebensächlichste und Schädlichste am ganzen Menschen wäre. Es ist, als sagte sich ein Soldat auf Posten: Was hilft mir mein Gewehr, wenn ich jetzt von einem Dutzend Leute Feinden überfallen werde? Ich lege es also beiseite und rauche Opiumcigaretten, bis ich eindöse.
Am Freitag Nachm. und Abend war die * Bibliothekarin Roth bei uns. Erbitterte Gegnerin der Nazis – aber: Wenn sie die Ostjuden ausgebürgert, oder wenn sie den Juden das Richteramt genommen hätten, DAS wäre allenfalls begreiflich gewesen.[] Also DAS wäre auch ihr recht nicht als abs absolut böse erschienen. Also ist * Hitler auch hier nicht ohne Basis.
– Ich liebe mein Dix-huitième 6 immer mehr. Dabei war die Rothin von meinem ersten * Rousseau-Capitel sehr entzückt u. freute sich der Gegenwartsbezüge. Es liegt so, daß die Lehre der Nazis teils doch nicht volksfremd ist, teils den gesunden Teil der Menschen allmählich verseucht. Nicht Christ noch Jud ist vor Infektion sicher. – Noch erzählte die Roth, daß meine Bücher aus dem Lesesaal der Bibliothek entfernt worden seien ..
Freitag, 30. Okt.
Sehr böse Tage. Es wird mir bis zum 10. Nov. an Kirchensteuer 121 M. abgefordert, (besonderer Hohn, dass es gerade Kirchensteuer ist), und im Dezember soll ich der Casco 108 M zahlen. Wir sind geradezu in Not. Ich hatte noch fünf ausser Curs gesetzte Dreimarkstücke, allerhand Gedenkprägungen darauf, auch die Schwurfinger * Hindenburgs, die auf die Verfassung erhobenen. Ein Münzengeschäft wollte die Stücke nicht nehmen, aber merkwürdigerweise löste die Reichsbank sie noch ein. Zuschuss also von n 15 M. Dann wurde * Frau Lehmann reduciert: einmal wöchentlich noch und vom 1. Nov. an Urlaub auf ein paar Monate. Dann wurde das Telephon gekündigt. Dann ging ich vom Cigarillo zur kurzen Pfeife zurück; (das ist mir merkwürdig qualvoll – Dreckerei, Tabakjauche im Mund entzündete Zunge und Lippe – aber es kostet nur 12 Pf. den Tag) All das bedrückt greulich. Und der Wagen steht unbenutzt und kostet im Stehn. Es fehlt an Geld, ihn ordentlich für den Winter umzustellen, und der Anlasser streikt. – Besonders schlimm, dass * Evas Widerstandskraft ziemlich aufgebraucht: abendliche Frostanfälle, schwere Melancholie und so. – Und nirgends eine Aussicht auf Änderung. Gestern die * Rede Göhrings zum neuen Vierjahresplan klang erfreulich verzweifelt, und das war ein Lichtblick; aber so recht an das wirklich nahende Ende glaube ich nicht mehr; es ist niemand da, der sich wirklich auflehnt, weder im In- noch im Ausland. Und alle Karten fallen zu Gunsten dieser Regierung. So jetzt das spanische Spiel. – Manchmal bin ich totmüde. Aber immer wieder
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