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Klemperer, Viktor

Klemperer, Viktor

Titel: Klemperer, Viktor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die Tagebücher
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jetzt officiell abgeleugnet); er glaubt an nahen Krieg .
    Die gestrigen Nachrichten scheinen mir den Krieg nun wirklich unvermeidlich zu machen: das Abkommen mit Japan zur Abwehr des Communismus. 1 Die Drohung gegen Russland, wenn es den zum Tode verurteilten Deutschen antaste.
     

 
    8. December, Dienstag.
    Die letzten Tage durch Vergrippung oder so etwas gekennzeichnet. * Eva hat Magenbeschwerden, Zerschlagenheit, liegt viel; bei mir arteten die üblichen rheumatischen Schmerzen derart aus, dass ich eine Nacht fast ganz ausser dem Bett verbrachte, zwei Tage lang die linke Schulter, den linken Arm kaum gebrauchen konnte, noch heute sehr gehemmt bin. (dazu das übliche Herzmemento im Park. Unsere Wirtschaft geriet ins Stocken, heute holten wir im Auto * Frau Lehmann her, und beim Einfahren geriet ich das erste Mal nach Monaten wieder in Collision mit der Gartenthür. Verbogene Schutzstange und grosse He[r]abminderung meines Stolzes, denn bei den kleinen Stadt- und Spazierfahrten der letzten Wochen war ich in der City nicht weniger als hier in der Einfahrt meiner Sache vollkommen sicher und glaubte nun die automobilistischen Kinderschuhe endgiltig ausgezogen zu haben. Noch heute hatte ich mich vor Frau Lehmann gezeigt, indem ich aus reinem Übermut (und gut!) die ganze schmale Pillnitzer Stra[s]se entlang fuhr. Bestrafter Hochmut und Rückfall.
    Der Krieg scheint umschichtig einen Tag in unmittelbarer Nähe und den nächsten in weitester Ferne. Heut ist so ein nächster. Und morgen beginnt der Prozeß gegen den * Gustloffmörder, den Juden * Frankfurter, in Chur.
    Letzten Sonntag war * Berthold Meyerhof ein paar Stunden bei uns. Mitgenommen durch eine Nierenattaque, gekündigt als jüdischer Vertreter einer hiesigen Maschinenfabrik und immer Meyerhöfisch unverwüstlich.
    Einen ödesten Nachmittag mussten (mussten!) wir auch die * Frau Erna Klemperer hierhaben. Bis in den Januar will sie noch in Dresden bleiben.
    Sonst ganz allein, absolut allein. Cf. anliegende Briefe aus letzter Zeit. 2
    * Rousseau, Cap. 3 ist gan[z] fertig, getippt corrigiert, * Eva vorgelesen. Heute nahm ich den Contrat social zur Hand. Im Augenblick glaube ich, DIES wird nun das Schwerste, und hier ist mir alles von * Ducros vorgekaut. Aber so sieht das im Anfang immer aus.
    Am 1. December wurde unser Telephon entfernt. Beinahe symbolische Handlung. Gänzlich verarmt und gänzlich vereinsamt.
    Vorgelesen: * Richard Boleslavski Polnische Ulanen 3 (The way of the lance[ s ]rs) Pole, englisch schreibend, Filmregisseur in USA, während des Krieges auf russischer Seite, innerlich Pole, aber ohne jeden Chauvinismus. Sein Regiment nach dem Zusammenbruch (200 Leute) sucht durch die Revolution hindurch gemeinsam den Heimweg. Ungemein interessante Scenen der Auflösung, des Unsinns, des Blutvergiessens, des Communismus (Friede! Land! Brod!) Keine heftige Parteinahme für Rot oder Weiss. Das allgemeine Elend. Im Augenblick war mir das Wesentlichste am Ganzen, dass nirgends aber auch nirgends ein Jude vorkommt. Es ist die Revolution der kriegsmüden Russen, des russischen Bauern, des russischen Volkes, der russischen Soldaten. Und hier heisst es täglich ein Dutzendmal: die Revolution der Juden, das verführte, von Juden verführte und geleitete und ausgebeutete russische Volk, der jüdische Bolschewismus etc., etc .. * Shakespearisch grotesk ist das Capitel Hochzeit. Zwei betrunkene Soldaten wollen zwei wenig widerstrebende Mädchen einer Klosterschule vergewaltigen. Der hilflose politische Commissar droht, die Nonnen jammern, der Geistliche redet ihnen ins Gewissen. Worauf die Leute den Geistlichen zwingen, sofort mit allen Riten und Gesängen die Trauung vorzunehmen.
     

 
    10. Dezember, Donnerstag.
    Vorgestern in der Zeitung ein interessantes Feuilleton von * Colin Ross (der unter die Nazis gegangen[)]. Er besucht in Salamanca * Unamuno, 1 den liberalen Mystiker und Rector der Univ. Salamanca. U. hat sich officiell von der roten Republik losgesagt, aber ebenso officiell sich auch abseits von den Fa[s]cisten gestellt. Worauf – grossartige Geste! – die Regierung * Franco ihn zum lebenslänglichen Rector der (geschlossenen!) Univ. Salamanca gemacht hat. Worauf U. das Amt niederlegte. Ross schreibt, er sei 72 Jahre, sehe aber aus wie ein viel älterer, ganz verfallener Greis am Rande des Grabes und spreche auch wie ein solcher. In voller Verzweiflung und hoffnungsloser Gegner beider Parteien. Natürlich musste das Feuilleton einen nazistischen

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