Klemperer, Viktor
Tochter des communistischen Zimmermanns * Lange kam aus dem Arbeitslager zurück, dem Nationalsoz gewonnen, den Eltern entfremdet. Die Führerin versammelte die Mädchengruppe auf dem Bahnsteig und hielt ihnen eine beschwörende Abschiedsrede: Ihr seid selbständige Menschen, handelt nach dem, was Ihr von mir gehört habt, lasst Euch durch Eure Eltern nicht beirren! Als * Mutter Lange der Tochter ins Gewissen reden wollte, erhielt sie zur Antwort: Du beleidigst meine Führerin! Ich denke mir diesen Fall verhunderttausendfacht und bin sehr bedrückt.
Im Sommer 35, als ich nach der Entlassung noch Auslandhoffnungen hatte, meinte Eva, die zeitlebens scharfe Witterung hatte, Japan müsse Chancen bieten. Seitdem wurden wir in langen Zwischenräumen irgendwie ein paarmal an Japan erinnert. * Spiegelberg sprach davon, * Martas * Lilli glaubte Beziehungen zur japanischen Gesandtschaft verschaffen zu können. Heute schickt Marta einen Artikel aus einer jüdischen Zeitung: Der Direktor der Musikakademie, * Prof Pringsheim, 5 hat eine Rede gehalten. P. (Schwager des ausgebürgerten * Thomas Mann) sei mit * Georg befreundet, ich solle sogleich Anknüpfung über Georg suchen. Wirklich habe ich sofort einen dringenden Brief nach Newtonville geschrieben.
Das Jahresrésumé kann ich sehr kurz fassen.
Auto-Freuden und Auto-Leiden, im Januar die Prüfung, im März der Wagen, 6 000 km gefahren.
Ständige Verarmung und steigende Finanznot; im Oktober durch * Georg ba aus schwerster Verlegenheit gerettet, aber nur momentan gerettet. Ständige Vereinsamung. Gar keine Hoffnung mehr auf einen Auslandsposten, sehr geringe i ich will nicht sagen gar keine, das wechselt von Stunde zu Stunde – sehr geringe auf das Ende des dritten Reichs.
Den ersten Band des 18. Jh.s ganz fertiggestellt (und nicht bei dem Breslauer Verlag untergebracht); seit dem Mai * Rousseau (und noch immer nicht fertig).
Im October auf ein paar Stunden zu * Wallys Einäscherung in Berlin.
1937
10. Januar, Sonntag gegen Abend.
Am Vormittag brachten * * Langes einen alten Handwerker, der eventuell einen Teil meines Heizkörpers hier im Arbeitszimmer in die Garage verpflanzen soll. Der Mann begann in einer verständigen und gemässigten Weise zu philosophieren und zu politisieren, er sah ganz offenbar die Verwandtschaft der * Rousseauringe 1 und so verging die Zeit bis Mittag, und dann war ich total müde. – Zu Weihnacht hatte uns * Johannes Köhler einen Roman gebracht: Das Paradies Martin Kressanders 2 von * Klaus Gustav Holländer (Meinem Vater * Felix Holländer 1929) Der erwies sich bei gestrigen Beginn sogleich und nachher in immer stärkerem Maass als Reisser und süsses Rattengift – ebensosehr Film als Roman, Abenteuer im brasilianischen Urwald, mystische Seelen- und Lebensverbundenheit zwischen dem Berliner im Urwald und der ihm ganz unbekannten kleinen Ghettojüdin in Berlin, aufregende Scenen, witzige Schilderungen, Berliner Illustrierte + [K]ino, kaum Dichtung aber grosse Routine im Variieren und Combinieren beliebter Scenen damaliger internationaler und republikanischer, die exotische Ferne und das Okkulte suchenden Zeit – – und so las ich am Vormittag und Nachmittag weiter vor und werde das auch noch am Abend tun und so einen ganzen Rousseaufernen Ferientag eingeschoben haben.
Der Contrat social-Teil ist fertig und in der Maschine, ich stehe am Anfang des Emile. Immer wieder und immer deutlicher: dies wird mein bestes Buch und der beste Abschnitt meiner Literaturgeschichte.
Am Neujahrstage machten wir eine kleine hübsche Mittagsfahrt: Wilsdruff–Autobahn (lag ganz einsam, und der schöne Blick auf die Uferhöhen war ganz im Nebel[)] durch ganz Dresden quer zurück ... Sonst in dieser Zeit nur kleine Stadtfahrten, leider meist zum * Zahnarzt, wo wir beide Patienten sind, leider im kolbenklappernden Wagen. Es fehlt an Geld zur Reparatur – * Michael will sie im Februar während seines Urlaubs als Abzahlung machen –, es fehlt auch an Geld für die Iduna. In dieser Sache bin ich jetzt ganz fatalistisch. Vielleicht kommt der Krieg, der alle Tage näher droht (Spanien und dreimal Spanien, dann Polen–Danzig, dann die Tschechei, 3 und immerfort das Raubtiergeschrei nach Kolonieen und das Toben gegen Russland-Juda (so sah ichs neulich im Freiheitskampf), und vielleicht bringt er Umschwung und Hilfe oder Tod, jedenfalls Ausgang, und vielleicht wird das mit Tokio was, und jedenfalls: I cannot help. 4
Volkssprache des dritten
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