Klemperer, Viktor
in letzter Zeit entstanden sein. S. 146: Jetzt entschloss ich mich .. eine vorbildliche Organisation zur Erziehung studentischer Redner AUFZUZIEHEN. Der Übersetzer weiss schon nicht mehr, dass aufziehen pejorativ ist; er weiss auch nicht, dass es als mechanistisch unmöglich zu Organisation passt. Spracherziehung durch das dritte Reich. (Verlag Holle u. Co., Berlin, Datum wohl 35, Übersetzer – sehr mittelmässiger – * F. Marquardsen. Japanischer Titel: Kodansha – ich glaube Erzähler von Volksromanen; Volksbücher in Zeitschriftform ist ein Hauptartikel dieses Verlegers, der als Volksschullehrer begann.)
24. Januar [ 24 ], Sonntag.
Es wird ringsum getorben. In diesen Tagen: zuerst * Praetorius, der kleine biedere Baumeister-Handwerker mit der unausstehlichen * Frau, der unser Haus gebaut hat und in besseren Zeiten zuende bauen sollte. Er war alt, solange wir ihn kannten, aber bis in den letzten Sommer rüstig und unverwüstlich. [D]ann wurde er deutlich senil. Er ist 71 geworden, wir kannten ihn wohl ein gutes Dutzend Jahre. [D]ann kam gestern die Nachricht, dass sich * Kalix erschossen habe. Ich habe den Hund nie gesehen, aber jahrelang seine schmutzige Verfolgung gefühlt. Er war hier Bürgermeister, bekannt als verkommenes Subjekt, allgemein verhasst und gefürchtet. Mir hat er zweimal mit Verhaftung gedroht. Todesursache dürfte venerische Krankheit oder Unterschlagung oder beides sein. Der typische kleine Würdenträger des dritten Reichs. Wir nahmen sein Ende als gutes Omen.
Die Nachricht brachte un[s] die Schalenfrau (Gemüsereste-Sammlerin für ihre Kaninchen) am 23., am Jahrestag also meiner Fahrprüfung. Als ich damals in der Mommsenstrasse zwischen der theoretischen und praktischen Prüfung wartete, kam gerade * Trefftz aus seiner benachbarten Wohnung, und wir plauderten. T. Prof. für Mechanik und Fliegerei, Rheinländer, sieben Jahre jünger als ich, * * Wieghardts intimer Freund trotz ausgesprochen nationaler Gesinnung, hat mir lange seines jungenhaften Wesens halber missfallen, danach aber lernte ich ihn seiner menschlichen Anständigkeit halber schätzen. Damals sagte er mir: Die Nazis kämpfen mit dem Rücken gegen die Wand gestellt; sie werden verzweifelt kämpfen, aber Sie werden fallen; nur dass es Ihnen nichts helfen wird, denn wo soll die nächste Regierung Geld für ein Luxusfach hernehmen? – Dann traf ich ihn vor einem Vierteljahr auf vor der Staatsbank; er ging am Stock, war aber sehr vergnügt. Er sagte, ihm sei zu Mut wie im Felde, wenn er aus dem Schützengraben kam: Blutvergiftung aus geringfügigem Anlaß, mehrere Operationen, fast aufgegeben, nun aber gerettet und fast ganz hergestellt. Gestern stand sein Nachruf in den Dr. N. N. 21 1 37, * 88. Den Mann hatte ich oft beneidet. Er hinterlässt fünf junge Kinder.
28. Januar, Donnerstag.
Der Fall * KALIX (einerlei, wie der reale Tatbestand sein mag) ist ungemein charakteristisch. In einem Nest wie Dölzschen, das deutlich von Dresden abgetrennt ist, wissen die Einwohner über ihre Prominenten gewiss Bescheid. Der Bürgermeister, vordem Lederreisender, war schon im vorigen Jahre längere Zeit aus dem Amt. Damals hiess es mit eminösem Grinsen: Krank – kommt wohl nicht wieder; es sollten Sittlichkeitsaffairen im Spiel sein. Jetzt, bei seinem [p]lötzlichen Verrecken, sofort undique: Selbstmord oder erzwungener Selbstmord. Dann stand in der Zeitung der ehrenvollste Nachruf für den ganz alten Kämpfer (A. K.: Sprache des 3. Reichs!), der einem tragischen Unglück erlegen sei; er habe zwei [P]olizisten zu einem Dienstgang einen Revolver überreicht (!!), die [W]affe habe sich entladen und ihn sofort getötet. Die gesamte Bevölkerung nehme am Begräbnis teil. Von der Begerburg 1 (jetzt Parteiheim) aus wurde er feierlich zum Friedhof gebracht, der Bürgermeister von Dresden, * Zörner, war da mit anderen grossen Parteitieren, der Pfarrer von Pesterwitz predigte fromm – über all das langer Bericht der Dresdener N. N.: Abschied von Bürgermeister Kalix. Wie wird das erst im Freiheitskampf[] ausgesehen [h]aben! – Dann kam die Schalenfrau: Mein Mann (Eisenbahnarbeiter) sagt, den haben die beiden Polizeier gezwungen sich zu erschiessen .. Und der Leichenzug! Das war wie bei einer Kindtaufe! Dann kam * Kaufmann Vogel, der jeden Mittwoch etliche fünfzig Kunden hier oben beliefert und so natürlich Dölzschens Begebenheiten und Vox populi aus dem FF kennt: Selbstmord war es bestimmt, aller Wahrscheinlichkeit nach
Weitere Kostenlose Bücher