KNOI (German Edition)
Wir fuhren doch nicht, wir standen Kopf, wir betrachteten die Landschaft und gönnten uns ein wenig Ruhe, schauten in den Wald, wie die Baumschnuppen in die Sterne fielen, wollen Sie uns tatsächlich diesen Moment ruinieren, wir hatten jahrelang auf diesen Abend gewartet, also lassen Sie uns bitte jetzt alleine. Natürlich bin ich wach, so wach wie nie, gehen Sie weg, was heißt Unfall, natürlich verstehe ich das Wort, bitte machen Sie dieses Geräusch aus, es ist diese gleichgültige Beharrlichkeit, nein, mir fällt das Wort nicht ein, Grace ist mein Name, just Grace, wir waren auf dem Weg nach –. Richard, sein Name sei Richard, und auch wenn sie ihren Kopf nicht bewegen konnte, hörte sie an dem Gurtgeräusch, dass er tot war, an dem Blick des Feuerwehrmannes erkannte sie, dass sein Gesicht ein Totalschaden war, und an der Menge der Schuhe, dass man sie noch eine Zeitlang gemeinsam in diesem Auto sitzen lassen würde, bevor man sie gewaltsam auseinanderriss.
Sie schloss ihre Augen und nahm Richards Hand. Sie lebten als Grace und Richard an den Stränden von Miami. Er wich nicht von ihrer Seite, denn die Männer liebten Grace, und ewig würde sie all den Avancen nicht widerstehen. Niemand konnte das. Man war Mensch, und Richard hatte Verständnis. Also blieb er in ihrer Nähe, und sie hatten jeden Tag Geschlechtsverkehr, damit Grace nie einer Grundgeilheit erliegen musste. So wollte es auch Grace, selbst wenn der Geschlechtsverkehr damit zu einer mechanischen Pflicht wurde und sie sich in manchen Momenten dabei ertappte, dem einen oder anderen trotzdem geil hinterherzusehen. Aber Blicke konnten nicht töten, nein, ganz bestimmt nicht, da gehörten immer zwei dazu, und niemand würde ihr jemals so nahe kommen wie Richard, näher als auf ein Wir rückte niemand zusammen, mehr ging nicht, auch wenn keiner verstand, warum er blieb, wenn Grace von den Typen stundenlang penetriert wurde. Dabei blieb ihr Gesicht völlig regungslos. Sie war besonders, und das spürten sie bei jedem Stoß, und wenn sie das Sperma auf ihren Körper ergossen, dann hatten sie das Gefühl, sie ejakulierten auf eine Puppe. Das Sperma war der Applaus, mit dem sie überschüttet wurde, und Grace lachte wie ein Engel, wenn der Saft auf ihr Gesicht spritzte, wenn sie die Schwänze wie Mikrofone hielt, in die sie die Dankesworte hineinsprach, wenn das Gestöhne endlich zur Ruhe gekommen war. Grace, Grace, Grace! Und sie flüsterte: Ich will wie meine Mutter heißen.
Mutter,
ich schreibe dir, weil ich weiß, du vergehst vor Sorgen, und ich rufe dich nicht an, weil nur ein Brief so leblos ist wie meine Seele. Ich möchte dir mit diesen Zeilen die Hoffnung nehmen, dass ich jemals nach Rohrbach zurückkehren werde. Ich habe mich für Richard entschieden und bereue diese Entscheidung nicht. Auch wenn er als Totalschaden auf dem Rohrbacher Friedhof liegt. Ich habe einen neuen Namen angenommen, den ich dir nicht verraten werde. Unter diesem Namen kennen wir einander nicht. Da sind wir nicht verwandt, ja, wir sind einander noch nicht einmal begegnet. Für dich ist es nur wichtig zu wissen, dass ich lebe. Ich habe gehört, Conny ist auch gegangen. Das überrascht mich. Jetzt, da Rohrbach ganz ihr gehören könnte. Vermutlich wird sie es nie verwinden. Ich will nicht behaupten, es hätte nichts mit ihr zu tun. Es wäre gelogen. Wir waren immer nur Schwestern, sonst nichts. Bitte sag ihr, dass ich im Nordwesten bin. Vermutlich wird sie in die andere Richtung wollen
.
Kein Absender.
Offenbar hatte ihr die Mutter den Brief irgendwann zurückgegeben. Vermutlich bei ihrer Rückkehr. Jakob kannte die Geschichte mit Richard nicht. Und er fragte sich, ob man jemanden lieben konnte, von dem man so wenig wusste. Andererseits hatte ihre Biografie nie eine Rolle gespielt. Der Unfall war ohnehin eine Neugeburt gewesen. Jennifer begann, die Geburtstage neu zu zählen. Und für Jakob war das Jahr Null der Beginn eines Abschieds. Aber wovon eigentlich?
Plötzlich läutete es an der Tür. Die Polizei, die Jennifers Leiche gefunden hatte? Jennifer, die für all das eine Erklärung hatte? Rita, die nach ihm sehen wollte? Lutz, der ihm endlich das Lidocain vorbeibrachte? Konrad, der mit ihm Leben tauschte? Die Eltern, die Jakob mit einem Kopfschütteln bedachten? Noch einmal das Läuten. Und Jennifer, die aus der Küche rief, dass es wohl für ihn einfacher sei hinzugehen, er möge sich also gefälligst in Bewegung setzen. Obwohl gerade sie gerne mal ignoriert hatte, wenn
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