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Königin der Engel

Königin der Engel

Titel: Königin der Engel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Greg Bear
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kleinen Bildschirm. Eine tragbare Fernbedienung von der Größe ihrer Tafel kontrollierte das Licht und andere Vorrichtungen. Sie sah sich einen Moment lang eine kleine Bedienungsanleitung für die Fernbedienung an und gab dann über die Kleintastatur die Kontrollsequenz ein, die den Bildschirm einschaltete. Dieser stellte sich automatisch auf das nach dem haitianischen Nationalhelden Toussaint L’Ouverture benannte Vidnetz der Insel ein.
    Idyllische Bilder des heutigen Sonnenuntergangs wurden zu beruhigenden Klängen von Elgar ausgestrahlt; tiefstehende Sonne über Kakteen Wald und Ozean, Sonnenuntergang hinter der Cul-de-Sac-Ebene und Port-au-Prince, Abenddämmerung in einem Mahagonigehölz, vor Santo Domingo ankernde Vergnügungsjachten, der Oceanport von Santo Domingo mit einem Scramjet – vielleicht ihrem –, der langsam herunterkam und landete.
    Die Musik erhob sich zu einem letzten, spektakulären Blick auf Henri Christophes La Fernere, die ironischerweise nach der Tasche eines Schmieds benannte gewaltige Zitadelle, gebaut, um die Franzosen abzuwehren, mit dem Alteisen eines Schmieds gefüllt – einer uralten Kanone, die nie einen Schuß abgegeben hatte.
    Was hatte der Exilierte vorgestern am Weihnachtsabend noch gleich gesagt… Daß William Raphkind sich mit einer Silberkugel hätte töten sollen, wie Christophe es vor mehr als zweihundert Jahren getan hatte. Mit einer Silberkugel, aus einer goldenen Pistole abgeschossen, um ein übernatürliches Wesen zu töten.
    Raphkind hatte sich mit Gift umgebracht.
    Ein männlicher Ansager erschien in einer Einblendung über der jungfräulichen Festung. »Guten Abend, Mesdames et Messieurs. Colonel Sir John Yardley, Präsident von Hispaniola, hat für diesen Zeitpunkt eine öffentliche Ansprache angesetzt. Der Präsident spricht vor dem Parlament und dem Nationalrat im Kolumbussaal in Cap Haïtien.«
    Mary lehnte sich zurück. Das Essen machte sie schläfrig. Sie hörte Roselle leise auf Kreolisch in der Küche singen.
    Colonel Sir John Yardley erschien in einer Nahaufnahme: straff gekämmtes, volles, aschgraues Haar, langes, sonnengebräuntes Gesicht mit vielen Falten und Runzeln, die Züge dennoch scharf und hübsch, volle Lippen, auf denen ein selbstsicheres halbes Lächeln lag. Er nickte dem unsichtbaren Rat und den Mitgliedern des Inselparlaments zu und begann ohne lange Umschweife.
    »Meine Freunde, unsere Lage ist in dieser Woche nicht besser als in der letzten. Unsere Bankreserven in einheimischer Währung und in Fremdwährungen sind geschrumpft. Mittlerweile wollen uns zwölf Nationen keinen Kredit mehr geben, darunter die Vereinigten Staaten und Brasilien, die früher unsere engsten Verbündeten waren. Wir werden also weiterhin den Gürtel enger schnallen. Zum Glück hat Hispaniola ja genügend gute Zeiten gesehen, und wir haben genug Reserven, so daß es uns nicht schlecht geht.« Yardley hatte einen deutlichen britischen Akzent beibehalten, aber nach dreißig Jahren war er von der präzisen, singenden Diktion der Inseln gemildert worden.
    »Aber was wird die Zukunft bringen? In der Vergangenheit sind unsere Kinder auf der Suche nach Bildung um die ganze Welt gewandert, und jetzt nehmen wir Studenten auf, die hierherkommen, um sich ausbilden zu lassen. Unsere Insel ist mündig geworden, und wir sind reif genug, um harte Zeiten durchzustehen. Aber was ist mit unserem Zorn darüber, daß wir schon wieder gekränkt werden? Hispaniola ist sich der Winde der Geschichte sehr wohl bewußt. Noch nie hat ein Fleckchen Erde so sehr unter den Händen von Fremden gelitten. Die Eingeborenen, die hier als erste im Paradies lebten, wurden nicht nur von Europäern, sondern auch von anderen Indianern getötet, von den Kannibalen aus Südamerika, den Kariben, die wiederum von Europäern massakriert wurden… Und dann brachten die Franzosen Afrikaner hierher, und sie wurden niedergemacht, und sie wandten sich gegen ihre Herren und machten diese nieder und wurden selbst erneut niedergemacht; und dann brachten sich Schwarze gegenseitig um, Mulatten schlachteten Schwarze ab, und Schwarze schlachteten Mulatten ab. Das Gemetzel ging bis in dieses Jahrhundert hinein weiter, während wir unter Karikaturen des napoleonischen Codes und unter Gesetzen schufteten, die Elend und Hunger und die Herrschaft von Dilettanten stillschweigend duldeten.
    Diktatoren und demokratische Regierungen, weitere Diktatoren, noch mehr Regierungen. Wir haben viel schlimmere Zeiten durchgemacht als

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