Königsallee
verschwand und kehrte mit einem kleinen Moleskine-Band zurück. »Es ist sehr privat. Ich möchte, dass Sie es mit Respekt behandeln. Und ich will es auf jeden Fall zurückhaben.«
Scholz sicherte ihr die Rückgabe zu. Ein Gummiband hielt die schwarzen Deckel verschlossen. Scholz öffnete das kleine Buch. Liniertes Papier, Versuch zu leben stand in gut leserlicher Handschrift auf der ersten Seite.
Scholz blätterte und war rasch enttäuscht. Das Buch enthielt weder Tagebucheintragungen, Termine noch Adressen. Nichts als Lyrik, offenbar selbst verfasst.
Tränen standen in den Augen der Mutter. Sie presste ihr Taschentuch gegen die Lippen. Ihre Schultern zuckten.
Er glaubte zu wissen, was ihr durch den Kopf ging: dass sie Schuld habe an allem, was im Leben ihrer Tochter schiefgelaufen sei. Er umarmte die schmale Frau und ließ es zu, dass sie ihm die Schulter nass heulte.
»Wir kriegen die Mörder«, sagte er leise.
Carola Andermatt löste sich von ihm. » Die Mörder?«
Sperma von drei Männern.
»Wer auch immer es war«, antwortete Scholz. Er gab ihr ein Kärtchen mit seiner Handynummer. »Rufen Sie mich an, sobald Ihnen noch etwas einfällt.«
Marietta wartete im Wagen. Als er einstieg, beendete sie gerade ein Telefonat und verabschiedete sich wortreich. Dann steckte sie das Handy ein und startete den Motor. »Stehst du auf sie?«
»Mannomann, wie kommst du darauf?«
»Lass dich nicht davon beeindrucken, wenn sie dir schöne Augen macht. Die Andermatt ist nur um den Ruf ihres Mannes besorgt.«
»Ich glaube, du bist nur sauer auf deine ehemalige Babysitterin, weil sie das Nachbarsmädel aus Garath nicht erkannt hat.«
Eingeschnappt fragte die Kollegin: »Zurück ins Präsidium, oder was?«
»Wir fahren zum Blitz und versuchen, den Autor dieses ominösen Artikels ausfindig zu machen. Ich kann mir vorstellen, dass er Henrike recht gut gekannt hat.«
Scholz wählte die Nummer der Mordkommission, bekam den Aktenführer an die Strippe, erklärte ihm, was sie vorhatten, und las ihm die Liste vor, die Carola Andermatt ihm gegeben hatte. Dann klappte er den Laptop auf, um schon mal am Protokoll der Aussage der Richtergattin zu feilen.
Seine Kollegin fragte: »Du glaubst, ein gewalttätiger Exfreund war der Mörder?«
»Gut möglich, findest du nicht? Nach allem, was wir über Henrikes Lebenswandel wissen, hatte sie reichlich Gelegenheit, an einen Perversling zu geraten.«
»Und in Sachen Marthau?«
»Anderer Täter, anderes Motiv.«
»Der Richter hat eines, vielleicht sogar in beiden Fällen.«
»Wie meinst du das?«
Marietta schwieg.
Scholz fragte: »Willst du andeuten, der eigene Vater hätte Henrike vergewaltigt, etwa gemeinsam mit seinen Kollegen aus dem Parteivorstand?«
»Wer weiß?«, antwortete Marietta.
46.
Auf der Rückfahrt zum Präsidium drängte sich Reuter ein hässlicher Gedanke auf: Sein Bruder hatte es verdient, verprügelt zu werden – allein wegen seiner Starrköpfigkeit.
Im MK-Raum herrschte Hektik. Die Kollegen telefonierten und hackten in die Tasten ihrer PCs, als stünde ein Durchbruch bevor. Der dicke Aktenführer fütterte das Faxgerät – bei jeder Bewegung bebten seine Hängebacken.
Reuter sprach ihn an: »Was gibt’s Neues? Was macht Sascha Maisel?«
»Räumt seine Wohnung auf, pennt, keine Ahnung«, antwortete Wiesinger, ohne aufzublicken. »Das MEK ist dran. Aber in Sachen Täterfahrzeug sind wir einen Riesenschritt weiter. Eins unserer Teams war mit unserem Jogger bei einem Händler in Hilden, der auf Wohnmobile und so was spezialisiert ist. Sie haben Prospekte gewälzt und konnten den Fahrzeugtyp eingrenzen. Das Teil, das Brede am Aaper Wald beobachtet hat, muss ein Mercedes-Benz Sprinter James Cook sein, und zwar in der Art, wie ihn die Firma Westfalia in verschiedenen Varianten seit 1995 herstellt.« Wiesinger unterbrach seine Tätigkeit und gestikulierte. »Der Aufbau hat so eine charakteristische Nase über dem Fahrerhaus. Davon sind in NRW knapp eintausend Stück zugelassen, um die hundert in unserem Raum und gut zwei Drittel davon in Weiß oder Silbermetallic. Wir checken gerade die Halter in Düsseldorf, Duisburg sowie den Kreisen Neuss und Mettmann. Vielleicht ist ja ein vorbestrafter Vergewaltiger darunter. Als nächsten Schritt werden wir die Adressen abklappern und uns die Rückleuchten zeigen lassen.«
»Klingt nach Riesenaufwand.«
»Aber es ist unsere beste Spur und die bloße Erwähnung des Namens Andermatt wirkt Wunder. Wir bekommen von den
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