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Kristall der Macht

Kristall der Macht

Titel: Kristall der Macht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Monika Felten
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rufen, was sie gesehen hatte, bevor sie gestorben war. Viel war es nicht, und die Bilder waren undeutlich und verzerrt. Sie erinnerte sich nur schwach, dass sie zum Strand gelaufen war, um nachzusehen, was dort los war. Dabei waren ihr viele flüchtende Menschen entgegengekommen …
    Tamre!
    Der Name tauchte so unvermittelt in ihren Gedanken auf, dass sie ihn zunächst nicht einordnen konnte, aber dann wusste sie es wieder. Sie hatte Tamre gesehen. Er war geflohen und hatte ihr etwas zugerufen, aber sie hatte nicht auf ihn gehört. Sie war einfach weitergelaufen. Zum Strand. Und dann … dann hatte sie ihn gesehen – den Nebel. Wie eine alles verschlingende Woge war er über das Meer auf die Küste zugefegt. Schnell, lautlos, todbringend. Den Horizont hatte er bereits verschlungen gehabt, und nur Bruchteile eines Augenblicks hatten ihn noch vom Strand und dem kleinen Fischerdorf getrennt.
    »Das ist es.« Kaori hielt mitten in der Bewegung inne. Der Nebel war direkt auf das Dorf zugekommen, also musste sie die Quelle irgendwo dort draußen vor der Küste suchen. Kaori zögerte nicht. In einer Welt, in der weder Hunger noch Durst und Erschöpfung zählten, gab es nichts, was sie davon abhalten konnte, unverzüglich aufzubrechen. Ohne sich noch einmal umzublicken, glitt sie die Hänge des Bergs hinab, tauchte einen Augenblick später in den Nebel ein und machte sich auf den Weg zum Dorf, wo sie die Suche beginnen wollte.
    Es war ein gutes Gefühl, endlich eine Aufgabe zu haben, ein Ziel. Etwas, das ihrem körperlosen Dasein einen Sinn gab und, mehr noch, die Gelegenheit, ihr Volk vor weiterem Unheil zu bewahren. Wenn es ihr gelang, Noelani die Wahrheit erkennen zu lassen, war ihr Tod nicht umsonst gewesen. Und wenngleich sie das furchtbare Schicksal der Kinder am Weiher damit nicht ungeschehen machen konnte, so konnte sie dadurch vielleicht einen kleinen Teil der Schuld sühnen, die so schwer auf ihr lastete.
    Wenig später erreichte sie das Dorf und den Strand. Fünf einfache Holzstege, an denen die Fischer ihre Boote festmachten, führten weit ins seichte Wasser hinaus. Die meisten Boote lagen noch so da, wie die Männer sie am Abend vor der Katastrophe zurückgelassen hatten. In einigen sah Kaori Tote liegen, Fischer, die das Unheil auf dem Meer hatten kommen sehen und die nicht schnell genug gewesen waren, um ihm zu entkommen. Im Wasser trieben reglose Körper zwischen allerlei anderem Unrat und toten Fischen. Einige hatte die Flut an Land gespült. Der Anblick war grauenhaft, und Kaori zwang sich, nicht hinzusehen. Es sind nur ihre Hüllen, weiter nichts, versuchte sie sich selbst zu beruhigen. Sie treiben im Wasser, so wie meine Hülle am Waldrand liegt.
    Für den Bruchteil eines Augenblicks überlegte sie, ob sie zurückkehren und nach ihrem Körper suchen sollte, verwarf den Gedanken aber wieder. Der Anblick der verwesenden Toten war alles andere als erfreulich, und sie entschied, dass sie sich lieber so in Erinnerung behalten wollte, wie sie in der Blüte ihres Lebens ausgesehen hatte.
    Ohne die Leichen in den Booten eines weiteren Blickes zu würdigen, glitt sie auf einen der Stege hinaus und versuchte zu bestimmen, welche Richtung sie einschlagen musste, um die Suche zu beginnen. Wie schon oben bei dem Dämonenfelsen regte sich auch hier kein Lüftchen, aber die Stege waren gute Wegweiser. Wie ausgestreckte Finger wiesen sie in Richtung der untergehenden Sonne, und sie war sich jetzt fast sicher, dass auch die Nebelwand aus dieser Richtung gekommen war.
    »Also los.« Ein einziger Gedanke genügte, schon schoss Kaori pfeilschnell durch den Nebel dahin. Der Steg blieb hinter ihr zurück, während sie sich in die Richtung bewegte, von der sie annahm, dass es Westen war. Als sie das Dorf hinter sich nicht mehr sehen konnte, schwebte sie höher, durchbrach den Nebel und fand sich unter einem Himmel wieder, den die Sonne kaum eine Handbreit über dem Horizont in leuchtenden Rot- und Orangetönen erstrahlen ließ. Darunter breitete sich der Nebel wie eine schmutzige Decke aus.
    Kaori seufzte. Ohne den Hinweis des Dämons und das Wissen, dass der Wind am Morgen des Unglücks auf Westen gedreht hatte, hätte sie die Suche in diesem Augenblick abbrechen müssen, so aber hielt sie unbeirrt auf die Sonne zu, voller Hoffnung, irgendwann den Ort zu erreichen, an dem der Nebel seinen Ursprung hatte.
    Pfeilgleich schoss sie dahin, schneller als der Wind und ohne auch nur den geringsten Luftwiderstand zu spüren, während

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