Kristall der Macht
halte mich nicht zum Narren.«
* * *
Lautlos und unbemerkt von den vielen Menschen schwebte Kaori durch den Garten des Tempels, der sich binnen kürzester Zeit in ein Flüchtlingslager verwandelt hatte. Die Dunkelheit verbarg gnädig die schlimmsten Frevel, dennoch waren die Spuren der Verwüstung, die zu viele Menschen auf zu engem Raum hervorzubringen pflegen, nicht zu übersehen. Beete waren zertrampelt, Büsche und Blumen geknickt. Immer wieder stieß sie auf Unrat, achtlos fortgeworfen oder einfach liegen gelassen, weil andere Dinge wichtiger erschienen oder weil im allgemeinen Durcheinander niemand Zeit und Muße zum Aufräumen fand.
Zu Lebzeiten hätte der verwahrloste Anblick Kaori das Herz gebrochen, nun aber beachtete sie ihn kaum. Beete und Blumen waren nicht mehr wichtig. Wenn ihr Volk die Insel verließ, würde die Natur sich in kürzester Zeit zurückholen, was die Menschen ihr in den Jahren der Besiedlung abgerungen hatten. Bald würden nur noch Ruinen davon künden, dass hier einmal ein Tempel gestanden hatte. Der Garten würde verwildern, und die Brüllaffen würden die letzten Früchte von den Bäumen ernten.
Sie schwebte weiter, dorthin, wo sie ihre Schwester vermutete. Die Räume der Maor-Say lagen in der Mitte des Tempels, das wusste Kaori von Noelani. Sie selbst war nie dort gewesen, denn nur wenigen war es gestattet, sie zu betreten. Diesmal jedoch gab es keinen, der sie aufhielt, als sie ins Innere des Gebäudes schwebte und sich auf die Suche nach ihrer Zwillingsschwester machte.
Die außergewöhnliche Lage hatte auch vor dem Tempel nicht haltgemacht. Wo zuvor nur Dienerinnen und Priesterinnen Zutritt gehabt hatten, traf sie auf unzählige Flüchtlinge, meist Frauen mit kleinen Kindern, die in den Korridoren und Sälen des Tempels Schutz vor der Kühle der Nacht gesucht hatten. Die meisten schliefen tief und fest auf dünnen Schilfmatten oder Decken, andere saßen einfach nur da und starrten in die Dunkelheit.
Niemand bemerkte Kaori, die wie ein kühler Windhauch vorbeistrich und die Menschen für den Bruchteil eines Wimpernschlags erschaudern ließ. Ihr Gefühl leitete sie sicher durch den Palast bis hin zu einer Tür, hinter der verhaltene Geräusche zu hören waren.
Sie ist hier! Sie ist da drin! Kaori war sich ihrer Sache sicher. Nur einen Augenblick zögerte sie noch, dann glitt sie mitten durch die Tür hindurch …
* * *
Noelani starrte auf das Wasser in der silbernen Schale, die vor ihr auf dem Tisch stand, als ein kühler Windhauch ihre Wange wie ein flüchtiger Kuss streifte und das Gefühl, nicht mehr allein zu sein, ihren Pulsschlag in die Höhe trieb. Kurz hob sie den Blick und schaute sich um, konnte aber nichts Ungewöhnliches entdecken.
»Bleib ruhig«, ermahnte sie sich leise. »Da ist nichts.« Sie zwang sich, gleichmäßig zu atmen, richtete den Blick wieder auf das Wasser und versuchte, nicht auf das Zittern ihrer Hände zu achten. Aber sie konnte sich nichts vormachen. Sie hatte Angst. Konzentriere dich, ermahnte sie sich in Gedanken – doch vergeblich. So sehr sie entschlossen war, die Ursache des Nebels zu ergründen, so sehr fürchtete sie sich auch vor der Geistreise in unbekannte Gefilde. Sie wusste weder, wie weit sie reisen musste, noch kannte sie die Richtung, die sie einzuschlagen hatte. Und weil sie am eigenen Leib erfahren hatte, was es bedeutete, sich zu weit vom eigenen Körper zu entfernen, mangelte es ihr an Mut, es noch einmal zu versuchen.
»Ich muss es tun. Es ist wichtig!«, sagte sie sich wohl schon zum hundertsten Mal. Aber die Vernunft war nicht stark genug, die Mauern der Angst einzureißen, die der Schrecken der letzten Geistreise um ihr Bewusstsein errichtet hatte.
Noelani seufzte, nahm den Strauß Lilien zur Hand, den sie am Nachmittag vorsorglich im Tempelgarten gepflückt hatte, und tat einen tiefen Atemzug. Der betörende Duft der Blumen entfaltete fast augenblicklich seine Wirkung, und sie richtete den Blick wieder auf die Wasserschale.
Endlich gelang es ihr, im Geist das Bild des tödlichen Nebels zu erschaffen, der rings um die Insel auf dem Ozean lastete. Für einen Augenblick kehrte die Furcht zurück, und das Gefühl, nicht allein zu sein, wurde übermächtig. Aber diesmal gelang es ihr, beides abzuwehren und aus ihrem Bewusstsein zu verdrängen. Ehe sie sich versah, war sie selbst Teil des Nebels und glitt wie ein Vogel über dem Wasser dahin.
Kein Mondlicht begleitete sie auf ihrem Weg durch das
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