Kristall der Macht
deine Entscheidung sein, und du wirst sie mit ganzem Herzen tragen.«
»Ist es so schlimm?«
»Schlimmer.«
»Dann will ich es sehen.«
»Ich wusste, dass du mutig bist.« Kaori glitt ganz nah an Noelani heran und streckte ihr die geisterhafte Hand entgegen. »Nimm meine Hand«, sagte sie.
»Wie denn? Ich sehe dich nicht.«
»Dann berühre ich dich. Aber erschrecke dich nicht.«
Kaori ließ ihre Hand in das rötliche Licht gleiten. Sie spürte, wie Noelani unter der Berührung erschauderte. Für einen Augenblick wechselte die Aura in ein Rotviolett, aber sie zuckte nicht zurück. Dann beruhigte sich das Farbenspiel.
»Ich spüre dich«, hörte Kaori Noelani sagen. »Du bist so … kalt.«
»Die Wärme gebührt den Lebenden«, erwiderte Kaori ohne Bitternis und fragte: »Bist du bereit?«
Noelani zögerte, als müsse sie erst all ihren Mut zusammennehmen, dann sagte sie: »Ja.«
Wie ein Pfeil schossen sie dahin, zuerst durch den Nebel und dann unter den Sternen hinweg. Weit. Weiter als jemals zuvor eines der Fischerboote von Nintau gefahren war. Wie lange die Reise dauerte, vermochte Noelani nicht zu sagen. »Was ist, wenn ich dies nicht überlebe?«, überlegte sie.
»Dann werden wir gemeinsam in das Licht gehen«, erwiderte Kaori sanft. »So wie es uns bestimmt ist. Aber keine Sorge. Du wirst leben.«
»Wie ist es, das Licht?«, wollte Noelani wissen. Jetzt, da sie Kaori bei sich wusste, schien es, als habe selbst der Tod seinen Schrecken verloren.
»Es ist warm und freundlich – wie eine Heimat. Ein Ziel.« Kaori seufzte leise. Es war seltsam. Solange sie gelebt hatte, hatte sie sich vor dem Tod gefürchtet, jetzt sehnte sie ihn mehr herbei, als sie dem Vergangenen nachtrauerte. Der Gedanke, dass alle das Licht hatten betreten dürfen, nur sie nicht, stimmte sie traurig. Sie beneidete die anderen darum, Erfüllung im Kreis ihrer Ahnen gefunden zu haben, und so war all ihr Sehnen nach vorn gerichtet, nicht zurück.
»Das klingt schön«, sagte Noelani und fügte fast schüchtern hinzu: »War es schlimm?«
»Was?«
»Zu sterben.«
»Oh … na ja. Eigentlich habe ich davon gar nichts mitbekommen. Ich bin zum Strand gelaufen und habe den Nebel gesehen. Dann habe ich keine Luft bekommen und bin ohnmächtig geworden. Als ich wieder aufgewacht bin, dachte ich zuerst, mir wäre nichts passiert. Aber dann …« Kaori verstummte, als sie den Augenblick des Schreckens in Gedanken noch einmal durchlebte.
»Dann?«, fragte Noelani neugierig.
»Dann wollte ich aufstehen und sah meinen Körper am Boden liegen. Da habe ich begriffen, was geschehen war.«
»Das klingt ja furchtbar.«
»Das war es zuerst auch. Aber jetzt habe ich mich damit abgefunden.« Kaori wusste, dass das eine Lüge war, aber sie wollte Noelani nicht noch mehr Kummer bereiten. »Ich bin so froh, einen Weg gefunden zu haben, dir nahe zu sein. Es tröstet mich ein wenig über die Einsamkeit hinweg«, fügte sie hinzu, und diesmal war es nicht gelogen.
»Bist du denn ganz allein?«, wollte Noelani wissen.
»Nicht ganz, da ist …« Kaori brach ab. Sie hatte Noelani von dem Dämon erzählen wollen, aber etwas hielt sie zurück.
»Was? Was ist da?«
»Nichts. Es ist nichts«, sagte Kaori eine Spur zu hastig. »Ich habe dir doch gesagt, dass alle außer mir in das Licht gegangen sind.« Sie blickte voraus und erkannte die Umrisse des Todesbergs in der Ferne. »Wir sind bald da«, sagte sie, froh, von dem unangenehmen Thema ablenken zu können. »Richte den Blick nach vorn, dann siehst du, was mich und die anderen getötet hat.«
* * *
»Ein Berg?« Noelani starrte auf den schwarzen Giganten, dessen rauchgefüllter Krater sich weit über dem Meer erhob. Eine Weile schwieg sie, dann sagte sie: »Also ist es wahr. Wir haben mit einer Lüge gelebt. All die Jahre.«
»Wir waren niemals sicher«, pflichtete Kaori ihr bei. »Wir hatten einfach nur Glück, dass der Wind günstig stand, wenn der Berg seine giftigen Schwaden ausstieß.«
»Das bedeutet, dass es immer wieder geschehen kann.« Allmählich wurde Noelani klar, warum Kaori darauf bestanden hatte, dass sie sie begleitete. »Es gibt keinen Zauber, der uns schützen kann.«
»Es gibt nichts, das euch schützen könnte«, ergänzte Kaori. »Gar nichts.«
»Aber wie sollen wir dann weiterleben?«, überlegte Noelani mit einem Anflug von Verzweiflung in der Stimme. »Wie? Die Gewissheit, dass der Nebel jederzeit zurückkehren kann, wird uns niemals wieder Frieden finden
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