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Kristall der Träume

Kristall der Träume

Titel: Kristall der Träume Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barbara Wood
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mannigfachen Erscheinungen wirbelten von den heißen Pflastersteinen auf, flimmerten wie Phantome, bis sie schließlich in der Gestalt eines Mannes verschmolzen.
    Amelia saß wie gebannt. Marias Worte hatten den Mann mitten in ihren Kreis gebracht, und Amelia sah ihn in Fleisch und Blut vor sich. Wenn Maria davon sprach, wie Jesus haderte, warum Gott ihm diese Last aufgebürdet habe, sah Amelia den Zweifel in seinen Augen und die Schweißtropfen auf seiner Stirn. Wenn Maria schilderte, wie er predigte, sah Amelia seine Züge erstrahlen. Dieser Jesus, über den in vielfältiger Form geredet, gepredigt und gestritten worden war, manifestierte sich jetzt und hier in diesem Garten in der Gestalt eines leibhaftigen Menschen. Nicht als Mythos oder Mysterium, sondern als Mensch, von einer Frau geboren und mit allen Hoffnungen, Zweifeln und Schwächen der Menschheit beladen.
    »Und dann wurde er verraten«, fuhr Maria leise fort. »Römische Soldaten zogen ihn aus und verhöhnten ihn, setzten ihm eine Dornenkrone auf und geißelten ihn. Und dann musste er sein Kreuz durch Jerusalem schleppen, während die Leute johlten und ihn mit Dreck bewarfen. Durch seine Hände und Füße wurden Nägel getrieben, dann wurde er am Kreuz hochgezogen, damit alle ihn sehen konnten. Mein herzallerliebster Jesus hing da wie ein armseliges Tier, blutend, hilflos und gedemütigt. Als die Luft aus seinen Lungen wich und sein Gesicht sich im Todesschmerz verzerrte, bat er Gott den Vater, den Männern zu vergeben, die ihm das angetan hatten.« Einige der Zuhörer begannen zu weinen, andere waren so betroffen, dass sie kaum atmen konnten. Amelia war zutiefst bewegt. Marias leise Worte hatten etwas bewirkt, was weder Petrus’ Predigten noch Paulus’ Ermahnungen, das Lesen von Schriftrollen, Briefen oder Evangelien erreicht hatten: Sie hatten Jesus zum Leben erweckt.
    Amelia presste die Hand an die Brust. Als sie die Halskette unter ihrem Gewand spürte, zog sie den Anhänger hervor und drehte ihn verwundert im diffusen Licht des Gartens. Im Inneren des Steins erblickte sie die arme Kreatur, die von römischen Soldaten gemartert worden war, sah den abgemagerten Körper, das blutüberströmte Gesicht, die von Dornen zerstochene Haut. Amelia hatte schon viele gekreuzigte Verbrecher, aber nie den Menschen dahinter gesehen.
    Wie viele von denen, die an Kreuzen die Via Appia säumten, waren unschuldig gewesen? Wie viele von ihnen hatten Familie, Frau und Kinder? Wie viele hatten unverdient am Kreuz gehangen, während ihre Familie am Fuß des Kreuzes weinte? »Ja«, wiederholte Maria, und man merkte ihr an, wie sehr die Erinnerung an die tragischen Ereignisse vor dreißig Jahren sie anstrengte. »Nach allem, was er erlitten hatte, bat er Gott, denen zu vergeben, die ihn gemartert hatten.«
    Amelia spürte einen Kloß in der Kehle. Durch einen Tränenschleier sah sie auf den blauen Stein, der sich in ihrer Hand zu verflüssigen schien. Nach allem, was man Jesus angetan hatte, bat er mit seinem letzten Atemzug Gott, denen zu vergeben, die ihn so misshandelt hatten. Auf einmal erkannte sie, was im Inneren des Steins verborgen war. Nicht der Geist der ägyptischen Königin oder Simon Petrus im Gebet, es war Jesus am Kreuz mit ausgebreiteten Armen. Wie der Vogeldeuter es vorhergesagt hatte!
    Amelia schluchzte auf. In all diesen Wochen hatte sie ihn an ihrem Herzen getragen und es nicht gewusst – den Mann, der sie mit offenen Armen empfing.
    Sie wurde getauft.
    Alle ihre neuen Freunde waren anwesend, um mit ihr zu feiern.
    Rahel, der die Ehre gebührte, die Taufe vorzunehmen, vollzog das Ritual unter Freudentränen. Dass ihre Familie nichts von ihrer Bekehrung wusste, kümmerte Amelia wenig. Man würde sie sowieso nicht verstehen, und sie würde sich gar nicht erst mit Erklärungen aufhalten. Mit der Zeit würde sie vielleicht von ihrer Taufe erzählen und ihre Kinder mit dem neuen Glauben vertraut machen können.

    »Was ist das?«, hörte sie Cornelius fragen, der gerade den Garten betrat. Wie gewöhnlich sprach er ohne Grußwort oder Einführung.
    Während sie Rosen schnitt, rätselte Amelia darüber, ob die Sommerrosen immer schon so köstlich geduftet hätten. Es kam ihr vor, als sähe sie die Welt mit anderen Augen, oder, wie es beim Evangelisten Paulus hieß, es sei ihr wie Schuppen von den Augen gefallen. Alles um sie herum war in neue Farben getaucht. Wie diese Rosen. Sie würde einen Strauß für Phoebe pflücken, die mit einer Erkältung

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