Kurschattenerbe
die Gilfklamm. In einem schmalen Durchgang zwischen den Felsen brachen sich die Wassermassen unerbittlich ihren Weg. Gnade Gott dem, der sich hier zu weit vorbeugte und hinunterstürzte.
»Hier ist einmal einer hinuntergefallen«, sagte Lenz. Jenny erschauderte. Unwillkürlich trat sie einen Schritt vom Geländer zurück. »Ist nichts passiert«, fuhr Lenz ungerührt fort.
»Nichts passiert, das kann ich mir nicht vorstellen.« Jenny vermutete, er wolle sie zum Narren halten. Doch Lenz begann, ihr die Geschichte von Arbeo zu erzählen, einem siebenjährigen Knaben, der im 8. Jahrhundert auf der Zenoburg in einem geistlichen Umfeld aufgewachsen war. Unterhalb der Burg war der Sarg des Heiligen Korbinian vorbeigetragen worden. Arbeo, neugierig das Schauspiel verfolgend, hatte sich so weit nach vorn gelehnt, dass er über die Mauerbrüstung stürzte. Entsetzen überfiel die Begräbnisteilnehmer, niemand hatte erwartet, den Knaben lebend wiederzufinden. Doch jener war an einem Buschwerk unverletzt hängen geblieben. Arbeo und alle, die den Sturz mitangesehen hatten, schrieben die wundersame Rettung dem soeben verstorbenen Heiligen Korbinian zu.
»Stimmt das wirklich?«, fragte Jenny ungläubig.
Lenz sah sie belustigt an. »Es ist eine Legende. Wie viele solcher Geschichten hat sie vermutlich einen wahren Kern.« Er wurde ernst. »Ich persönlich meine, dass man größere Überlebenschancen hat, wenn man in die Klamm stürzt.«
Das vermochte Jenny nun keinesfalls zu glauben. »Lenz, mach dich nicht über mich lustig.«
Lenz ließ sich nicht beirren. »Landest du auf einem der Felsen, brichst du dir sämtliche Knochen oder sogar das Genick. Fliegst du ins Wasser, hast du gute Chancen, durch den Strudel durchzutauchen und wieder an die Oberfläche zu gelangen. Da unten sind keine Steine. Die beginnen erst vorn nach dem Steg. Da wird es flacher. Du musst versuchen, ans Ufer zu gelangen. Das kalte Wasser wird dir einen Schock versetzen. Aber wenn du schwimmen kannst und keine Panik kriegst, kannst du es schaffen.«
Beinahe atemlos hatte Jenny ihm zugehört. Allein beim Gedanken an das eiskalte Nass begann sie zu frösteln. Sie bemerkte, dass die Sonne, die bis vor Kurzem durch die Bäume geschienen hatte, hinter den Berggipfeln verschwunden war. »Lass uns gehen«, sagte sie. Es wurde Zeit, ins Hotel zurückzukehren. Ihr Appetit meldete sich. Marthas kalte Platte war verdaut. Jenny hatte gerade nichts gegen ein warmes Abendessen einzuwenden. Sie warf einen letzten Blick in die Klamm und bemerkte zwei Kanufahrer, die mit den Fluten kämpften.
»Victor und Juri«, sagte Lenz. »Die beiden trainieren für das Kanurennen am Samstag.«
Sie waren inzwischen die Stufen wieder hinuntergegangen und an dem Weg, der zurück zu Promenade führte, angelangt. »Die sollten sich lieber um ihren Schützling kümmern«, stellte Jenny fest. »Streift Sascha etwa wieder allein durch die Gegend?«
Wie auf Zuruf sahen sie das Mädchen. Das Rad hatte es achtlos an den Wegrand geworfen. Eben bückte Sascha sich über einen der künstlich angelegten Felsengärten und tastete mit beiden Händen auf dem Stein herum. Sie schien etwas zu suchen. Jenny überlegte, ob sie das Mädchen ansprechen sollte, da vernahm sie Lenz neben sich: »Sascha, suchst du was?« Er hatte kaum zu Ende gesprochen, da fuhr das Mädchen hoch und richtete sich auf. Doch anstatt zu antworten, schnappte sie ihr Rad, saß in Sekundenschnelle auf und radelte davon.
Seltsames Kind, dachte Jenny.
»Schau einmal«, sagte Lenz plötzlich. »Hab ich etwas gefunden.«
ZEHN
Jenny zuckte zusammen. Lenz hatte etwas gesagt. Er berührte sie an ihrem nackten Oberarm. Ein Kribbeln durchfuhr sie. Wieso machte der Kerl sie so nervös? Sie musste ihn sich aus dem Kopf schlagen, er war viel zu jung. »Jenny«, wiederholte Lenz. »Schau, was ich gefunden habe.«
Er war so nahe an sie herangetreten, dass sie sein Rasierwasser riechen konnte. Ein leicht zitroniger Duft stieg ihr in die Nase. Jenny fand ihn sehr angenehm.
Unauffällig schnupperte sie. Ja, er roch gut, da gab es nichts zu bemängeln.
Sie musste sich zusammenreißen. Das hier war kein Schäferstündchen. Im nächsten Moment hatte sie sich wieder im Griff und sah auf den Gegenstand, den Lenz ihr hinhielt.
»Das Medaillon«, entfuhr es ihr.
»Ja, es ist ein Medaillon«, bestätigte Lenz und betrachtete es eingehend durch seine Brillengläser. »Sehr schöne Arbeit«, stellte er schließlich fest.
Jenny, der es vor
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