Lallbacken
herrschte eine Art kollektiver Wahnsinn: Wenn wir uns nur genug einschränken, dann werden wir belohnt, und die Unternehmer werden viele neue Jobs schaffen. Und alle redeten davon, dass die Lohnnebenkosten für die Unternehmer zu hoch waren. Aber dass seit Jahren auf immer größere Zugeständnisse an die Wirtschaft immer höhere Arbeitslosenzahlen folgten, wurde ausgeblendet.
Die Betroffenen mussten einen Antrag ausfüllen. Das ging los mit ganz allgemeinen Fragen: Ob sich die »Leistungen für Mehrbedarfe« nur auf »erwerbsfähige Hilfsbedürftige« oder auch auf »die im Haushalt lebenden Eltern oder den im Haushalt lebenden Elternteil eines minderjährigen, unverheirateten erwerbsfähigen Kindes und den im Haushalt lebenden Partner dieses Elternteils« erstreckten. Dann musste man Auskunft geben, ob man selbst oder die mit im Haushalt lebenden Angehörigen Vermögen wie Bettwäsche und Zweitkugelschreiber hatten. Kostbare Gemälde, etwa die betenden Hände, das Häschen oder den röhrenden Hirsch mit dem Goldhelm, musste man nicht angeben. Und es wurde auch nicht gefragt, ob man eventuell zum Kreis der Steuerhinterzieher gehörte, die mehr als 400 Milliarden Euro am Fiskus vorbei in Luxemburger oder auf Zürcher Banken geparkt hatten. Solche Bagatellen interessierten die Behörden nicht.
Eher schon intime Dinge: Wie viele Socken haben Sie? Sie dürfen zwei Socken besitzen, die kürzer als drei Jahre in Gebrauch sind, und eine Socke, die älter als vier Jahre ist. Noch ältere Socken müssen Sie nicht angeben, bei Nachweis von Löchrigkeit dürfen Sie einen Dringlichkeitsantrag stellen und bekommen dann bei Vorlage eines ärztlichen Attests eine gebrauchte, aber gewaschene Socke zugeteilt. Dasselbe gilt für Schlüpfer. Eine Krawatte war erlaubt, aber nur, wenn man für den Winter keine Ohrenschützer und in der Heuschnupfenzeit keine Taschentücher hatte.
Natürlich mussten die Behörden mit einer großen Fülle fehlerhafter oder sogar in betrügerischer Absicht ausgefüllter Fragebögen fertig werden. Trotzdem erhielten die meisten Antragsteller einen sachlich richtigen Bescheid in verblüffender Liebenswürdigkeit. Das Sozialamt in Hamburg-Altona schrieb beispielsweise einer Bittstellerin:
»Sehr geehrte Frau …
Um Ihren Antrag zu bearbeiten, teilen wir Ihnen Folgendes mit:
Ihnen würde zur Zeit aufstockende Sozialhilfe in Höhe von 28 Mark 8o zustehen. Sollten Sie diese in Anspruch nehmen, kann die Bekleidungspauschale erst nach einer Wartefrist von drei Monaten gezahlt werden. Sollten Sie aber auf ergänzende Sozialhilfe verzichten, kann die Bekleidungspauschale sofort gewährt werden.«
Die Alternative lautete also, entweder nackt oder hungrig. Na und? Jeder Mensch muss hin und wieder eine lebenswichtige Entscheidung treffen.
Und die Sozialabteilung des Ortsamtes Hamburg-Fuhlsbüttel schrieb einem Hilfesuchenden:
Sehr geehrter Herr …
Gemäß § 2 Bundessozialhilfegesetz erhält keine Hilfe zum Lebensunterhalt, wer sich selber helfen kann.
Nach Aktenlage sind Sie aus der Wohnung Ihrer Mutter ausgezogen, weil es Meinungsverschiedenheiten zwischen Ihnen und Ihrer Mutter gegeben hat. Dieser Sachverhalt kann nach der gängigen Rechtsprechung nicht zu Lasten des Sozialhilfeträgers erfolgen.
Sie haben die Möglichkeit, sich dadurch selbst zu helfen, indem Sie wieder in den Haushalt Ihrer Mutter zurückkehren, weil dort Ihr sozialhilferechtlicher Bedarf gedeckt ist.
Mit freundlichen Grüßen …
Im Rahmen der deutschen Sozialgesetzgebung wäre es sicher sinnvoll, die deutsche Mutter müsste ihre Leibesfrucht mit dem Erreichen des Verfallsdatums zurücknehmen.
Der Bundesminister für Arbeit und Soziales, Wolfgang Clement, einer der Architekten von Schröders Agenda 2010 und der Hartz-IV-Gesetze, der nichts vom Zusammenleben einer Gesellschaft begriffen und auch nie etwas Sinnvolles für die Allgemeinheit auf die Beine gestellt hatte, liebte nichts so sehr, wie laut über Faulenzer, Schmarotzer und Parasiten zu schwadronieren. Dabei übersah er, dass die meisten Parasiten in Deutschland Nadelstreifenanzüge trugen. Herr Clement konnte sich auch nicht an der Phantasie von Menschen erfreuen, die versuchten, möglichst entspannt über die Runden zu kommen – nein, der wohlhabende Herr Minister musste sie in einem schäbigen Report auf 33 Seiten diffamieren. Hartz-IV-Empfänger würden sich mit »beispielloser Dreistigkeit« Leistungen erschleichen, behauptete Herr Clement. Aber viele Menschen
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