Land der Sehnsucht (German Edition)
nicht daran hindern können. Ich hätte es mit drei oder vier von ihnen aufnehmen können, aber in diesen Städten sind einfach zu viele Männer. Ich kann dich nicht beschützen.“
Die Frage, die sich in diesem Moment in ihr regte, war nicht neu gewesen. Sie lag unter der Oberfläche, seit sie an jenem Tag aus der Höhle herausgekommen waren und sie seine Tränen gesehen hatte. Der Tag im Kolonialwarenladen, seine Angst vor engen Räumen, es passte alles zusammen. „So wie du nicht verhindern konntest, was vor langer Zeit in einer Höhle passiert ist, Jack?“
„Ja, genau so“, flüsterte er schließlich und Véronique sah den schmerzlichen Ausdruck auf seinem Gesicht. „Ich wusste, dass das, was Billy und ich vorhatten, gefährlich war. Billy wusste es nicht. Er war vorher nie in der Nähe von Minen gewesen. Er dachte, es sei nur ein Abenteuer. Ich wusste es besser, aber ich dachte, uns würde nichts passieren. Ich nahm mir vor, auf ihn aufzupassen. Wir würden immer in der Nähe des Eingangs bleiben.“
„Aber Billy hörte nicht auf deine Warnungen.“
„Billy hätte überhaupt nicht dort sein sollen. Das war meine Schuld. Er sah die Bretter nicht. Sie waren morsch, und er brach ein und fiel in einen alten Schacht. Der Tunnel ging ein kleines Stück schräg bergab, bevor er dann steil in die Tiefe stürzte. Billy konnte sich an einer Wurzel festhalten. Er war nicht weit von mir weg. Nur einen halben Meter. Er schrie immer wieder meinen Namen und flehte mich an, ihn herauszuholen.“ Verzweiflung lag in seiner Stimme. „Ich kroch zu ihm. Ich war größer als er und meine Beine waren länger, also stemmte ich mich an die Wand, um eine bessere Hebelwirkung zu haben. Ich hatte ihn an der Hand, aber wir waren beide glitschig vom Schlamm.“ Seine Stimme brach ab.
Er starrte vor sich hin und Véronique wusste, dass er sich wieder in diesem Minenschacht befand und in der Dunkelheit eingeschlossen war.
Ein langes Schweigen folgte. „Ich konnte ihn nicht festhalten. Er rutschte den Rest des Schachts hinab bis dahin, wo der Tunnel steil abfiel, und verschwand dann in der Dunkelheit.“
Véroniques Magen war wie ein kalter Stein, als sie sich vorstellte, welche Angst dieser Junge gehabt haben musste und mit welchen Schuldgefühlen und Schmerzen der Mann neben ihr seit so vielen Jahren leben musste.
„Ich konnte nicht mehr allein hinausklettern. Ich war zu weit unten.“ Er lachte hart. „Also hielt ich mich fest und schrie um Hilfe und hörte, wie Billy meinen Namen rief, immer wieder und immer wieder, von weither. Als Hilfe kam, hatte er längst aufgehört zu rufen. Man hat mir gesagt, er sei durch den Sturz gestorben.“
„Oui, der Sturz hat ihn getötet, Jack.“ Sie berührte seinen Arm. „Und nicht du.“
Er drehte sich mit wütender Miene zu ihr herum. „Verliere du mal jemanden, für den du verantwortlich bist, und dann komme ich und sage dir so etwas – wie wäre das wohl für dich?“
Während sie jetzt in Miss Maudies schönem Haus stand, spürte Véronique immer noch den Schmerz in seinen Worten und sah die Tränen in seinen Augen. Als ihre nächste Fahrt angestanden hatte, war sie wie immer in aller Frühe im Mietstall erschienen. Als er sie bemerkte, stand Jack lange da und sah sie nur an. Dann war er auf sie zugegangen und hatte ihr sein Gewehr in die Hand gedrückt. „Bevor wir aufbrechen, bekommst du eine Schießstunde. Ich will sehen, wie du damit zurechtkommst.“
Mehr war seitdem nicht gesagt worden.
Hatte er Frieden über das gefunden, was mit dem kleinen Billy passiert war? Oder hatte er begriffen, dass er nicht immer jeden Menschen beschützen konnte? Véronique wusste es nicht. Aber sie fragte sich: Hätte Arianne Girard, wenn sie gewusst hätte, welche Gefahren diese Suche für ihre Tochter mit sich brachten, sie trotzdem darum gebeten?
In Miss Maudies Zimmer rührte sich etwas. Véronique ging auf Zehenspitzen über den polierten Holzboden und spähte hinein. Die Frau schlief noch.
Ein sehr breiter Flur führte links von ihr der Länge nach durch das Haus. Véronique ging ein paar Schritte und bewunderte die Bilder, die die Wände schmückten. Sie vermutete, dass es Vorfahren aus Miss Maudies Familie waren.
Die Porträts sahen eindrucksvoll aus, die Rahmen waren teuer und die Personen wirkten echt. Aber der Maler hatte es versäumt, die persönlichen Eigenschaften jedes Einzelnen einzufangen. Alle Augen, die sie anschauten, drückten die gleichen Gefühle aus, auch wenn
Weitere Kostenlose Bücher