Land der Sehnsucht (German Edition)
jeden Augenblick anfangen würde zu schneien.“
Miss Maudies Lachen erinnerte Véronique an die kleinen Glocken, die im Winter immer am Geschirr von Monsieur Marchands Percheronpferden geklingelt hatten. Diese Gedanken an ihren früheren Arbeitgeber brachten sie dazu, für seine Gesundheit zu beten. Auch wenn sie nicht so egoistisch sein wollte, konnte sie trotzdem den Gedanken nicht von sich abschütteln: Was würde aus ihr werden, falls ihm etwas zustieße?
„Diese Briefe müssen für Ihre Mutter ein großer Schatz gewesen sein, mein Kind. Und auch für Sie. Haben Sie Zeit, mir noch einen vorzulesen?“
Véronique sah den letzten Umschlag auf ihrem Schoß an. „Oui, das ist der letzte Brief, den mein Vater geschrieben hat. Es ist also unser letzter … für heute.“ Sie zögerte, da sie ihren nächsten Satz so beiläufig wie möglich klingen lassen wollte. „Ich kann die früheren Briefe mitbringen, wenn ich wiederkomme, sofern Sie das möchten.“
Miss Maudies Augen wurden weich. „Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie gern ich das möchte, Kind.“ Sie ließ ihren Blick über das Land schweifen und seufzte tief. „Die letzten Jahre waren sehr einsam für mich. Ich habe viel Zeit, um zu sinnieren und über die Vergangenheit nachzudenken. Das ist nicht gut, meine Liebe.“ Sie wollte etwas sagen, brach dann aber ab. „Ich war nie verheiratet, Miss Girard. Ich hatte einmal die Gelegenheit dazu … aber mein Vater fand, dass dieser Mann meiner Hand nicht würdig sei. Und ehrlich gesagt, ging es mir genauso.“
Véronique hörte die Einsamkeit in Miss Maudies Stimme und wünschte, sie hätte ihre Fahrt nach Casaroja schon viel früher unternommen.
Miss Maudie schüttelte lächelnd den Kopf. „Er war ein etwas rauerer Typ, wissen Sie. Er besaß nicht das vornehme Verhalten und die Konversationskunst, die in meinen Kreisen üblich war.“ Sie senkte den Blick. „Ich weiß nicht, warum ich Ihnen das erzähle, Miss Girard. Wahrscheinlich will ich Ihnen damit einfach sagen, dass mir Ihre Gesellschaft große Freude bereitet. Ich genieße die Gespräche mit Ihnen und würde mich sehr freuen, wenn Sie wieder zu mir kommen.“ Sie zog eine Braue in die Höhe. „Natürlich nur, wenn Sie das Geschwätz einer alten Frau aushalten.“
Véronique lächelte und wusste, dass sich Jack sehr darüber freuen würde. „Ich würde das nicht nur aushalten, Miss Maudie. Ich würde es sehr genießen.“
„Sie tun mir gut, Miss Girard. Und jetzt – sie lehnte sich in ihrem Rollstuhl zurück – würde ich gern den letzten Brief hören.“
Véronique klappte den Umschlag auf und zog die bekannten weißen Blätter heraus. Aber auf ihren Schoß fiel noch ein Blatt. Sie hob es auf, da sie das helle Violett des Briefpapiers erkannte. Es stammte aus dem Schreibtisch ihrer Mutter.
Sie drehte den Brief in ihrer Hand und ihr Herz schlug schneller.
„Nimm sie. Lies sie, ma Chérie.“ Sie hörte die Worte mit einer solchen Klarheit und Kraft, dass die Aufforderung ihrer Mutter plötzlich eher wie eine Warnung als wie eine geflüsterte Bitte klang.
Véronique faltete den Brief ihrer Mutter auseinander und las den ersten Satz.
Ihre Brust zog sich zusammen. Ihre Hände zitterten. Die Handschrift ihrer Mutter war nicht so kunstvoll, wie sie sie aus jüngeren Jahren in Erinnerung hatte, aber auch nicht so zittrig wie in den letzten Tagen ihres Lebens.
Ihre Mutter hatte diesen Brief vor der letzten Phase ihrer Krankheit geschrieben. Aber sie hatte ihr nichts davon verraten.
„Meine Liebe, was ist?“ Miss Maudie beugte sich auf ihrem Rollstuhl vor.
Véronique schluckte. „Das ist ein Brief von meiner Mutter.“ Sie las den ersten Absatz und dann den nächsten, und plötzlich wurde ihr übel. Sie bekam keine Luft mehr.
„Miss Girard! Geht es Ihnen gut? Soll ich Claire oder Thomas rufen?“
Véronique lehnte dieses Angebot mit einer Handbewegung ab. „Non, merci.“ Aber es wäre dennoch gut, wenn sie wieder Luft bekäme. Sie atmete ein und ließ die Luft langsam wieder entweichen. Dann wiederholte sie den ganzen Vorgang. Sie fühlte sich, als wäre die Erde gerade aus ihrer Umlaufbahn gesprungen.
Für sie persönlich jedenfalls war genau das soeben passiert.
Kapitel 36
Mr Clayton begrüßte Jack mit ausgestreckter Hand an der Tür des Landvermessungsbüros. „Herzlichen Glückwunsch, Mr Brennan. Ich hatte von Anfang an das Gefühl, dass es gut für Sie laufen würde.“
Während der Mann Jack die Hand schüttelte, sah
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