Land der Sehnsucht (German Edition)
und massierte sich den Nasenrücken. „Zugegeben, mein persönlicher Kontakt zu der Patientin und ihrer Familie könnte mein Urteilsvermögen trüben.“ Er blickte sie direkt an. „Aber ich habe schon manch einen Patienten gesehen, der sogar mit den Beschränkungen eines Rollstuhls ein erfülltes Leben führen konnte, Mademoiselle Girard. Aus einem Sarg heraus konnte das noch niemand.“
Während sie auf dem gnadenlos harten Wagensitz saß, auf Jack wartete und sich an das Gespräch mit Dr. Hadley erinnerte, regten sich die verschiedensten Gefühle in ihr. Die geschätzten Kosten für die Operation waren höher, als sie erwartet hatte, aber wenn Monsieur Marchands Überweisungen weiterhin wie gewohnt einträfen – und sie hatte keinen Grund, etwas anderes zu glauben –, hätte sie genug Geld, um die Operation zahlen zu können.
Dr. Hadley hatte großzügig angeboten, sich bei dem Chirurgen in Boston nach den Kosten zu erkundigen, und wenn der Mann bereit wäre, die Operation bei Lilly durchzuführen, würde Dr. Hadley Véronique begleiten, um Pfarrer Carlson und seiner Frau ihren Vorschlag zu unterbreiten.
Als Jack endlich zu ihr in den Wagen stieg, verriet ihr sein harter Gesichtsausdruck, dass sie ihn nicht noch einmal nach diesem Zimmermann fragen sollte. Das machte sie natürlich nur noch neugieriger.
Als sie den Stadtrand erreichten und er immer noch nichts gesagt hatte, legte sie eine Hand auf seinen Arm. „Bitte, Jack. Ich muss es wissen. Vor was hat Monsieur Hochstetler uns gewarnt?“
Mit seinem Lächeln hatte sie nicht gerechnet. „Du meinst … Wovor hat Monsieur Hochstetler uns gewarnt?“
Sie erkannte ihren grammatikalischen Fehler und suchte nach einer Erklärung, konnte aber keine finden. Bis auf den Umstand, dass sie so viel falsches Englisch gehört hatte, seit sie in diesem Land angekommen war, dass es unweigerlich seine Spuren bei ihr hinterlassen hatte. Sie war versucht, diesen Gedanken laut auszusprechen, entschied sich aber dagegen.
„Véronique …“
Die Zärtlichkeit, mit der er ihren Namen aussprach, fesselte ihre Aufmerksamkeit.
„Wenn du wirklich hören willst, was Mr Hochstetler gemeint hat, sage ich es dir.“ Das gleichmäßige Klappern der Pferdehufe erfüllte das Schweigen, das nun folgte. „Aber glaube mir, es hat nichts damit zu tun, was wir heute unternehmen, und ich denke, es wäre besser, wenn du es nicht wüsstest. Bitte vertraue mir.“
Eine tiefe Aufrichtigkeit lag in seiner Stimme und unterstrich den Blick in seinen Augen.
Alles in ihr forderte sie auf, ihm zu vertrauen. Sie wusste, dass sie ihm vertrauen konnte. Sie nickte langsam und war für seinen Wunsch, sie zu beschützen, dankbar. „Ich will es trotzdem wissen.“
Jacks Miene wurde schlagartig ernster. Er konzentrierte seinen Blick wieder auf die Straße. „Zimmermann ist der Mann, der vor mir Hochstetlers Transporteur war. Bei seiner letzten Fahrt nach The Peerless hinauf versuchte er, beim Maynor’s Gulch eine zu schwere Ladung über den Pass zu befördern. Sein Wagen kippte und stürzte ab.“
„Stürzte … ab?“ Sie erschauerte. „Wohin?“
„Den Berg hinab.“
In ihrem Kopf drehte sich alles und sie bekam keine Luft mehr, als sie sich die Szene vorstellte. Den Kopf zwischen die Knie zu legen hätte geholfen, aber der Gedanke, wie undamenhaft das aussähe, hielt sie davon ab. „Ist … ist dieser Zimmermann … gestorben?“
„Nein, Madam. Aber er hat sich sein Bein schwer zugerichtet und verbrachte zwei kalte, unangenehme Nächte da draußen, bis jemand vorbeikam und ihn fand.“ Jack schaute sie durchdringend an. „Und … bist du jetzt glücklich? Jetzt, da du es weißt?“ Sein Blick verriet ihr, dass er nicht glücklich darüber war.
Sie vertraute Jacks Können, den Wagen zu lenken, konnte aber den schweren Stein, den sie mit einem Mal in ihrem Magen spürte, nicht vertreiben. Auch nicht die Schmerzen in ihren Fingerknöcheln, weil sie die Sitzbank so fest umklammerte.
* * *
Je höher der Wagen an diesem Morgen den gewundenen Weg hinauffuhr, umso kühler wurde die Luft, und umso dünner. Véronique hatte Mühe, genug Sauerstoff zu bekommen.
Drei Stunden später fuhren sie immer noch bergauf. Der schmale, zerfurchte Weg, der in die Seite des Berges geschnitten war, klammerte sich an die Felswand, so wie sich ein ängstliches Kind an den Rocksaum der Mutter klammert. Es war ein Wunder, dass es diese Straßen überhaupt gab. Dann kam ihr der Gedanke, dass sie vielleicht
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