Land der Sehnsucht (German Edition)
gar nicht natürlich entstanden waren.
Jack lachte, als sie ihm diese Frage stellte. „Nein, diese Straßen sind nicht zufällig hier. Hier wurde nachgeholfen. Eine Gold- oder Silber-ader zu finden ist zwar großartig, aber sie ist nicht viel wert, wenn sie nur in der Seite eines Berges steckt. Man muss sie abbauen, und dazu muss man Werkzeuge ins Lager hinaufbringen und das Gold und Silber wieder hinunter in die Stadt.“ Er deutete auf die sich windende Straße vor ihnen. „Heutzutage wird Dynamit verwendet, aber früher hat man von Hand gegraben.“
Da der Steilabfall dieses Mal auf Jacks Seite war, musste sie nicht die schmale Kante anstarren, wo der Boden plötzlich endete und in die darunterliegende Kluft überging. Die Entdeckung, dass Jack auf dieser Seite des Wagens saß, war anfangs tröstlich gewesen.
Bis ihr bewusst geworden war, dass es auf dem Rückweg genau anders herum wäre. Und egal, auf welcher Seite der Steilabfall lag, falls der Wagen abstürzte, stürzten sie mit ihm in die Tiefe.
Ein plötzliches heftiges Ruckeln riss Véronique aus ihren Gedanken. Ihr wurde übel. Sie konnte nur noch sehen, wie sie und Jack mit gebrochenen, blutüberströmten Körpern unten in der Tiefe lagen.
„Können wir … kurz stehenbleiben, Jack, s’il vous plaît.“
Schweigen. „Wo soll ich denn deiner Meinung nach hier stehenbleiben?“
Der schmale, steil ansteigende Pfad ließ alles vor ihren Augen verschwimmen. Sie musste aussteigen. Wenn auch nur für einen Moment.
„Véronique, was tust du …“ Sein Arm legte sich um ihre Taille und er zog sie näher zu sich.
Ihr Magen rebellierte. Ihr Hals brannte. „Ich glaube, ich muss … mich übergeben, Jack.“ Sie legte sich eine Hand auf den Mund. Tränen traten ihr in die Augen.
Er lockerte seinen Griff, hielt sie aber immer noch fest. „Tu, was du nicht lassen kannst, aber ich kann den Wagen hier nicht anhalten. Das ist im Moment unmöglich.“
Da sie fühlte, dass sie das Unheil nicht länger verhindern könnte, versuchte sie, von ihm wegzurutschen. Sie konnte sich nicht übergeben, wenn sie neben ihm saß.
„Du kannst nicht aufstehen, Véronique! Das ist nicht sicher.“ Er zog sie wieder eng an sich.
Der Druck in ihren Schläfen wurde unerträglich. Sie versuchte, auf ihre Seite des Wagens zu rutschen, aber Jack bestand darauf, sie eng an sich heranzuziehen, als versuche er, sie zu trösten.
„Es macht nichts, Véronique. Halte durch. In zehn Minuten haben wir diesen Anstieg geschafft.“
Zehn Minuten waren eine halbe Ewigkeit. Jeder Schlag, jedes Wackeln auf der holprigen Straße erinnerte sie an den klaffenden Abgrund links neben ihnen und verstärkte ihre Übelkeit.
Bis sie sich nicht länger beherrschen konnte.
„Jack, es tut mir so leid …“
Sie leerte ihren Mageninhalt auf den Boden des Wagens. Sie keuchte schwer und rang nach Luft. Und dann passierte es noch einmal.
Jack ließ sie los und zuckte vor ihr zurück. Er stemmte seine Füße auf den Wagenboden.
Tränen schnürten ihr die Kehle zu. Ihre Augen brannten. Ihr wurde abwechselnd heiß und kalt, was zweifellos von ihrer Übelkeit herrührte. Aber auch, weil sie sich zu Tode schämte.
Sie hielt den Kopf in den Händen, warf einen verstohlenen Blick auf seine schmutzigen Hosenbeine und wünschte, sie könnte in ein Loch auf der Seite des Berges kriechen und nie wieder herauskommen. Es gehörte sich nicht, dass eine Chefin sich übergab und ihren Angestellten dabei beschmutzte. Sie hatte den starken Verdacht, dass dies ihrem Ziel, eine respektvolle Grenze zwischen ihnen zu ziehen, nicht sonderlich dienlich war.
Der kühle Windstoß fühlte sich auf ihrem Gesicht und in ihrem Nacken himmlisch an und half, den Gestank ein wenig zu vertreiben. Das Pochen in ihren Schläfen ließ allmählich nach und in ihrem Kopf wurde es klarer. Sie berührte ihre Haare und stellte fest, dass sie völlig zerzaust waren. Komisch, wie unwichtig das im Moment war.
Nach einer Weile wagte sie wieder einen Blick neben sich.
Jack konzentrierte sich auf die Straße, aber sie wusste trotzdem, dass er merkte, dass sie ihn anschaute. Er verzog einen Mundwinkel. „Fühlst du dich jetzt besser?“
Seine Frage, die so unschuldig war, so überhaupt nicht verurteilend, konnte ihre Beschämung nicht vertreiben. Véronique schlug sich die Hände vors Gesicht.
„Es ist okay, Véronique. Ehrlich. An der ersten passenden Stelle, die ich finde, halten wir an und machen uns sauber. Okay? Es dürfte nicht
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