Laura Leander - 03 Laura und das Orakel der Silbernen Sphinx
Versteckte
Zeichen
m Stadtrand, nicht weit vom Bungalow der Familie Leander entfernt, lag das Anwesen des Restaurators inmitten eines ruhigen Wohnviertels, in dem um diese Uhrzeit kaum ein Mensch unterwegs war. Reginald Hörrich hatte den Bauernhof schon vor vielen Jahren gekauft und gründlich umgebaut. Die frühere Scheune diente ihm nun als Werkstatt. Dahinter befand sich ein weitläufiger Garten mit prächtigen alten Obstbäumen, der Laura als Landeplatz für die Fluglöwen wie geschaffen schien.
Nahezu geräuschlos gingen Latus und Lateris dort nieder. Laura wies die beiden an, sich im Schutz der Bäume versteckt zu halten und sich nicht von der Stelle zu rühren, bis Lukas und sie zurückkehrten.
»Was Ihr nicht sagt, Madame!« Latus klang gekränkt und wandte sein Mähnenhaupt dem Bruder zu. »Eigentlich wollten wir uns heimlich davonmachen und Euch im Stich lassen, nicht wahr, Lateris?«
»Genau!« Das breite Grinsen, das um das Löwenmaul des Fabeltieres spielte, verriet jedoch, dass es nur scherzte. »Übrigens: Die Eingangstür zur Werkstatt befindet sich auf der linken Seite des Gebäudes, wie ich beim Landen gesehen habe.«
»Unsinn!«, fauchte sein Bruder ihn an. »Sie ist rechts! Eindeutig auf der rech-«
»Wollt ihr wohl still sein!«, fiel Laura den Streithammeln ins Wort. »Versteckt euch lieber, und passt auf, dass ihr nicht entdeckt werdet.«
»Genau das würde ich Euch auch empfehlen, Madame!«, maulte Latus noch, duckte sich dann aber doch mit dem Bruder ins hohe Gras hinter dem Stamm eines ausladenden Apfelbaumes.
Gefolgt von Lukas, der sie mit seinem algengrünen Gesicht an einen Wassermann erinnerte, schlich Laura um die ehemalige Scheune herum und gelangte auf den Hof. Er war mit groben Kopfsteinen gepflastert und wurde auf drei Seiten von Gebäuden begrenzt: dem Wohnhaus, einer Doppelgarage und eben der Werkstatt. Zur Straße hin erhob sich eine hohe Einfriedungsmauer, in die ein großes Holztor und eine kleinere Eingangspforte eingelassen waren. Vorsichtig spähte Laura um die Ecke: Kein Mensch war zu sehen, und keine Lampe sorgte für störendes Licht. Auch hinter den Fenstern der Werkstatt war es dunkel. Nur in einem Zimmer des Wohnhauses war ein heller Schein zu erkennen: Offensichtlich wartete Reginald Hörrich dort auf seine Besucher.
Der Eingang zur Werkstatt befand sich weder auf der linken noch auf der rechten Seite des Gebäudes, sondern exakt in der Mitte der hofseitigen Wand. Die schlichte Holztür war zwar abgeschlossen, doch das Riegelschloss bot Attilas Zauberschlüssel nicht den geringsten Widerstand, und so standen die Geschwister schon Augenblicke später im Inneren der ehemaligen Scheune.
Der Geruch von Farben, Terpentin und Firnis stieg Laura in die Nase. Auch die Aromen von Leder, Leinwand und altem Holz lagen in der Luft. Fürs Erste verzichtete sie darauf, die mitgebrachte Taschenlampe einzuschalten. Der Schein könnte sie verraten, und bevor sie das Gemälde nicht entdeckt hatten, war es unnötig, sich diesem Risiko auszusetzen. Es dauerte dann auch nicht lange, bis sich Lauras Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten. Die Konturen von Schränken, Regalen und Arbeitstischen tauchten vor ihr auf. Das Mädchen konnte die Umrisse von Staffeleien erkennen, von Kommoden, Truhen und anderen Möbelstücken, die Reginald Hörrich zur Aufarbeitung anvertraut worden waren. Leinwände und Rahmen, Stoff- und Tuchballen der mannigfaltigsten Art waren in den Regalen gestapelt. Daneben wurden dicke und dünne Rollen von Borten, Schnüren, Seilen und Tauen in jeglicher Stärke verwahrt. Und überall standen Bilder in unterschiedlichsten Größen, Holz- und Steinskulpturen und andere Kunstgegenstände herum.
Als Lukas Laura auf die Schulter tippte, erschrak sie. »Schau mal«, flüsterte der Bruder beklommen und deutete auf die Wand hinter sich. Daran lehnten die Ritterrüstungen aus der Alten Gruft, je zwei rechts und links von der Eingangstür. Laura konnte die Skeletthände und -fuße erkennen, die aus den Arm- und Beinscharnieren ragten. Obwohl die Ritter schon seit mehreren Jahrhunderten tot waren, richteten sich die Härchen in Lauras Nacken auf, und ihr war, als trippele eine ganze Armee winziger Eisgnome über ihren Rücken.
Auch Lukas war anzusehen, dass ihm der schaurige Anblick nicht gerade Wohlbehagen bereitete.
Laura fasste sich jedoch rasch. »Die Gruselbande kann uns zum Glück nichts anhaben«, flüsterte sie. »Lass uns lieber nach dem Gemälde suchen!«
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