Lauter reizende Menschen
Aufschrei riß Rosie von ihrem Lager; die Hündin tapste heran, legte die Vorderpfoten aufs Fensterbrett und schaute ernsthaft hinaus. Lucia starrte das Feuer auf der Höhe an. Brannte dort oben in der Einsamkeit vielleicht ein Gehöft nieder? Sollten etwa die Stallungen in Flammen stehen? Aber eilig wies sie den Gedanken von sich: Dazu war das Feuer wohl doch zu klein, der eben noch grelle Schein verlor bereits zusehends an Kraft.
»Ach was! Ich kann doch nichts dagegen tun!« versuchte Lucia sich selbst zu beruhigen. »Es muß halt ausbrennen. Wir beide aber gehen am besten wieder zu Bett. Für heute nacht haben wir genügend Aufregungen gehabt!«
Der große Hund schien ganz derselben Meinung. Seufzend bettete er sich wieder auf seinen Teppich, während Lucia unter die Decke kroch und das Licht löschte. Morgen früh um acht Uhr wollte sie auf dem Posten sein: Von vornherein sollten Len und die Kunden sehen, daß sie ihre neue Aufgabe sehr ernst nahm.
Rosie schlief schon; sie atmete schwer und ließ hin und wieder ein kehliges Schnarchen hören. »Wie kann ich einschlafen, wenn ein Hund im Zimmer ist?« jammerte Lucia in sich hinein — und sank zehn Minuten später in friedliche Träume.
ZWEITES KAPITEL
Es war sieben Uhr, und die Sonne schien Lucia mitten ins Gesicht. Unbehaglich bewegte Lucia den Kopf, denn sie träumte, unmittelbar vor ihr starre sie ein großes Gesicht an... Endlich schlug Lucia die Augen auf, und da schaute sie wirklich in die große, wilde Physiognomie des Boxers: Rosie hatte die Vorderpfoten aufs Bett gelegt und ließ kein Auge von der Schläferin.
Für einen kurzen Augenblick erstarrte Lucia zu Stein, dann aber lachte sie auf. »Rosie, hast du mich aber erschreckt! Was ist denn los? Zeit zum Aufstehen? Da hast du allerdings recht.«
Sie sprang aus dem Bett und lief ans Fenster. Gestern abend und bei Nacht hatten die Eindrücke sie ein wenig verwirrt. Zunächst hatte sie, übermüdet nach langer Reise, alles wie durch einen Schleier gesehen, und dann war bei dem mitternächtlichen Erdbeben und dem geheimnisvollen Feuer keine ruhige Betrachtung aufgekommen. Jetzt aber, im hellen Schein der Septembersonne, sah alles erfreulich normal und einzigartig schön aus.
Zwischen Haus und Tankstelle, von einem sauber gestrichenen Zaun mit kleiner Pforte umgeben, lag ein sorgsam gemähter Rasen. Onkel Peter war offenbar kein Gärtner, und darüber war Lucia herzlich froh: Zwar liebte sie schöne Gärten, jedoch verfügte sie über keinerlei Erfahrungen und versorgte nicht gern Blumen, von deren Pflege sie nichts verstand. Gleich hinter der Tankstelle, die unmittelbar an der großen Kreuzung lag, dehnte sich schimmernd der Halbmond-See. Am gegenüberliegenden Ufer einer Bucht erkannte Lucia eine kleine Ansammlung von winzigen Gebäuden. Das war wohl der Lagerplatz.
An der Kreuzung, von der die Tankstelle den Namen hatte, stand ein Wegweiser, und Lucia las: »Ferienlager Halbmond-See« und »Gebirgsstraße — Lakeville!« Darunter noch eine Warnung: »Achtung! Bei Regenfällen und Schneefällen: Wildwasser!«
Eine seltsame Gegend! Der große See, der urwüchsige Busch, der Lagerplatz — und am allerseltsamsten das Trainingsgestüt irgendwo da oben. Wie merkwürdig sich Wildnis und Zivilisation hier mischten. Kein Wunder, daß die Erde bebte und mitten in der Nacht Feuer aufloderten! Oder hatte Lucia die Abenteuer der Nacht etwa nur geträumt?
Aber in der Küche lagen ja noch die Trümmer von Onkel Peters Radio. Wie mochte es dem Onkel wohl gehen? Wann würde man ihn operieren? Bestimmt würde Mutter ihr sofort schreiben; gleich nachher wollte Lucia Len fragen, wie man hier an seine Post kam. Der Busfahrer hatte doch gesagt, das merkwürdige Anwesen mit dem Gespenstergarten sei die Posthalterei. Man hatte wohl jedesmal, wenn man einen Brief bekam, die Schauerbilder im Garten und die kunstbeflissene Besitzerin zu ertragen? Das war ja nicht auszudenken! Wieder dachte Lucia an Onkel Peter, und da fiel ihr auch wieder Carmen ein. Nachdem Rosie sich als harmloser Hund erwiesen hatte, hoffte Lucia, daß Carmen vielleicht eine muntere Henne oder ein schnatternder Wellensittich war. Allerdings: Wer würde vor einer Henne oder einem Sittich warnen?
Lucia kochte Kaffee und röstete sich ein paar Scheiben Brot, froh darüber, daß die Tankstelle eine eigene, von Len versorgte Stromquelle hatte. Kohlenofen und Petroleumlampe wären doch gar zu umständlich gewesen!
Nachdem Lucia die gemütliche
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