Lawinenexpreß
zog sich auch russische Unterwäsche, Schuhe, ein Hemd und eine Krawatte an. Auch der Hut war aus Rußland. Als er wieder hinunterging, sah er, daß sich auch Nacken umgezogen hatte, der jetzt eine russische Chauffeuruniform trug. »Den Wagen«, sagte Jaeger, »ich möchte ihn mir selbst noch einmal ansehen…« Er folgte Nacken und betrat die Garage direkt durch eine Tür an der Rückfront der Villa.
In der Garage stand ein glitzernder Mercedes, der vor kurzem blitzblank poliert worden war. Der Glanz wird bei dem Wetter nicht lange halten, dachte Jaeger. Der Wagen trug die Kennzeichen eines Diplomatenfahrzeugs, nämlich die Schilder der sowjetischen Botschaft in Bern. Er ließ Nacken einsteigen und den Anlasser betätigen, um den Motor zu testen. Der Wagen sprang sofort an. Jaeger ging zufrieden und beruhigt ins Haus zurück und wählte die Telefonnummer der Lindengasse 451. Wieder nahm Ilse Murset den Hörer ab.
»Hier Bernard«, meldete sich Jaeger. »Die Sammlung ist jetzt versandfertig…«
»Verstanden!« Ilse legte auf.
»Sämtliche Arrangements sind getroffen«, sagte sie Scharpinsky und zog den Reißverschluß ihres Kleides hoch. »Jeder ist auf seinem Posten, und ich bin bereit, dich zum Hauptbahnhof zu fahren.«
Oberst Igor Scharpinsky, der noch im Hemd dasaß, nickte. »Jetzt dauert’s nicht mehr lange, General Traber«, sagte er. »Jetzt dauert’s nicht mehr lange…«
Der Atlantik-Expreß holte die verlorene Zeit bei seiner Nonstopabfahrt vom Gotthard durch einen wüsten Schneesturm rasch auf.
Im Führerstand der Bo-Bo-Lokomotive half Enrico jetzt ein ausgeruhter Lokführer. Springer hatte darauf bestanden, daß er Enrico von Airolo an begleitete. Dieses Arrangement hatte dem stämmigen Mann aus Basel gar nicht behagt.
»Es braucht schon mehr als einen Schlag auf den Kopf, um mich außer Gefecht zu setzen«, brummte er, als er die Instrumente prüfte und die Signale beobachtete. »Und wir werden planmäßig in Zürich eintreffen. Verflucht noch eins – mein Ruf steht auf dem Spiel…«
In dem Abteil im letzten Schlafwagen, in dem Marenkow bewacht wurde, herrschte eine gespannte Atmosphäre, die immer unangenehmer wurde, je mehr der Zug sich Zürich näherte. Julian Haller war irritiert, daß der Russe jetzt schon zum drittenmal die gleiche Bemerkung machte, war aber schon zu erschöpft, tun sich darüber aufzuregen.
»Ich bin überzeugt, daß Scharpinsky in Zürich zusteigt…«
»Daß er den Versuch machen wird«, korrigierte ihn Elsa. Sie hielt die Porträtskizze Igor Scharpinskys hoch, die sie nach Marenkows Beschreibung auf ihren Block gezeichnet hatte. »So, jetzt wissen wir zum erstenmal, wie er aussieht.«
Der untersetzte, breitschultrige Russe winkte ungeduldig ab. »Das wird nichts nützen – ich kann immer wieder nur sagen, daß er ein genialer Verkleidungskünstler ist…«
»Seien Sie doch nicht immer so verdammt pessimistisch«, fauchte Elsa zurück. »Ich sage Ihnen doch, daß ich ein volles Jahr als Maskenbildnerin beim Film gearbeitet habe. Ich weiß, wie man das Aussehen eines Schauspielers verändert. Wenn überhaupt jemand in der Lage ist, ihn zu identifizieren, wenn er einsteigt, dann ich…«
Das bejahten sowohl Wargrave wie Springer, der gleichfalls im Abteil saß. Der Plan bestand also darin, daß Elsa sich nach der Ankunft in Zürich an die Sperre stellen und jeden ansehen sollte, der in den Zug einstieg. Der Schweizer Oberst hatte ohnehin Grund, zufrieden zu sein. Marenkow hatte aus dem Kopf bereits eine Liste mit Namen und Adressen sämtlicher KGB-Agenten in der Schweiz geliefert – allerdings keine der GRU-Agenten, über die er kaum etwas wußte.
»In welchen Gebieten außerhalb der Sowjetunion hat Scharpinsky gearbeitet, als er unter Tarnnamen an den verschiedenen sowjetischen Botschaften diente?« wollte Wargrave wissen.
Marenkow zählte die Posten an den Fingern ab. »Paris – sechs Monate. London weitere sechs Monate. Washington zwei Jahre. Athen ein Jahr. Schließlich ein weiteres Jahr in Den Haag.«
»Er spricht also wahrscheinlich fließend Griechisch, Französisch, Englisch und Amerikanisch?«
»Ich habe bisher immer den Eindruck gehabt, daß die beiden letzten ein und dieselbe Sprache sind«, warf Haller maliziös ein.
»Wir haben alle unsere Illusionen«, erwiderte Wargrave grinsend. »Hab’ ich recht, General?«
»Absolut«, erwiderte Marenkow. »Scharpinsky hat eine beachtliche Sprachbegabung. Das war einer der Gründe für seine
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