Leben mit dem Feind: Amsterdam unter deutscher Besatzung 1940-1945 (German Edition)
sagt: »Wenn wir im Lager meinen Mann treffen, dann wird er doch alle seine Söhne sehen wollen.« Das war die erste Geschichte dieses Abends, die sich dem siebzehnjährigen Jan ins Gedächtnis brannte. Eine zweite folgte: »Als unsere nächste Nachbarin, Frau Kleijnkramer, nach draußen kam, war sie völlig in Panik. Plötzlich durchbrach ihre Stimme die Stille. In hysterischer Verzweiflung schrie sie: ›Wir werden vergast, wir werden vergast.‹ Niemand reagierte, niemand sagte etwas.« Die lautlose wie die schrille Verzweiflung hing in den Straßen von Amsterdam, blieb haften, auch wenn die Menschen längst fortgebracht waren.
Hanns Albin Rauter: SS-Führer und oberster Chef aller Polizei in den besetzten Niederlanden treibt die Deportation voran
Mitte September konstatierte der polizeiliche Nachrichtendienst als Reaktion der Amsterdamer auf die Deportationen »vor allem Mitleid«, aber »zu Taten kommt es nicht«. Das war nicht die ganze Wahrheit. Zwar gab es keine zentralen öffentlichen Proteste und keine Widerstandsaktionen. Bis auf minimale Ausnahmen taten alle rund um die Wegführung der Juden Beteiligten ihren Dienst, Straßenbahn- und Zugfahrer, Polizisten, städtische Beamte. Aber an manchen Abenden kamen an den Plätzen, wo die Juden, die aus ihren Wohnungen geholt waren, sich sammeln mussten, spontan Jugendliche zusammen, Juden und Nichtjuden. Sie machten mit lauten Worten ihrem Abscheu Luft und ihrer Verachtung gegenüber den Polizisten, die öfters mit ihren Dienstpistolen in die Luft schossen, um die Aufgebrachten auf Abstand zu halten.
Aus der Sicht des Amsterdamer Polizeichefs Tulp waren die kleinen Scharmützel Anlass, dem obersten Verantwortlichen für die Amsterdamer Juden-Aktionen, Hanns Albin Rauter, am 26. September stolz über die erfolgreichen Deportationen im Allgemeinen und über die Männer vom kasernierten Amsterdamer Polizeibataillon im Besonderen zu berichten: »Sie werden es verstehen, Gruppenführer, dass das jede Woche regelmäßige Einfangen von durchschnittlich 450 Juden pro Abend das niederländische Publikum vor Mitleid und Empörung bersten macht. Trotzdem ist der Respekt vor den Männern des Bataillons so groß, dass z. B. in der Nähe des Krugerplein, wo abendaus abendein zahlreiche Leute das Einfangen von Juden beobachten, bloß die Anwesenheit von zwei Polizeiagenten des Bataillons genügt, um dem Äußern von auch nur einem Missklang vorzubeugen …« Dann folgt eine indirekte Bestätigung, dass die »normalen« Amsterdamer Polizisten nicht mit gleicher gewünschter Härte vorgingen. Tulp fährt fort, dass an solchen Sammelplätzen mehrere »normale« Polizisten »alle Hände voll zu tun gehabt hätten«, um die Unruhe unter Kontrolle zu halten.
Es blieben winzige Protest-Zeichen in einem Meer von Schweigen und Wegsehen, trotz allen Mitleidens. Die illegale Zeitung Het Parool wollte die große Mehrheit der nichtjüdischen Amsterdamer nicht kritisieren. Sie brachte nach den ersten Deportationen im Juli keine Artikel mehr über die schrecklichen Ereignisse in Amsterdam, rief nicht mehr zum Widerstand auf. Je länger die Verfolgungen der Juden anhielten, je intensiver sie wurden – nichts änderte sich an dem Gefühl »ohnmächtiger Wut« und der banalen Realität: Das Leben geht weiter.
So genossen die vielen Amsterdamer, die keinen gelben Stern tragen mussten und für die Parkanlagen, Cafés und Schwimmbäder kein verbotenes Terrain waren, die heißen Hochsommertage 1942. Sie lagen im Amstelbad, das Anne Frank sehr geliebt hatte, spazierten durch den Vondelpark, saßen auf der Terrasse vom Café De Kroon am Rembrandtplein und tranken den neuesten Hit: Joghurt, verquirlt mit Marmelade. Leider nicht von Dauer, denn sehr bald kam auch der Joghurt »op bon«. Und wahrscheinlich ließen sich die Gedanken an die verflixten Bezugsscheine nicht völlig verscheuchen. Die Ersatz-Seife enthielt kaum noch Fett, dafür um so mehr Chlor, eigentlich unbrauchbar. Das übliche Waschmittel war inzwischen so schlecht, dass es Textilien nicht sauber, sondern kaputt machte. Aber wem es gelang, beim Metzger nach und nach fünf Kilo Suppenknochen zu erstehen, und wer sie nach dem Auskochen wieder ablieferte, erhielt ein gutes Stück Seife oder ein ordentliches Waschmittel.
Der Absatz der Kinokarten stieg weiter, die Amsterdamer strömten mehr denn je in Konzerte und Sportveranstaltungen. Hatten die Bewohner der Hauptstadt 1939 in den öffentlichen Bibliotheken 155 000 Bücher
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