Leben mit dem Feind: Amsterdam unter deutscher Besatzung 1940-1945 (German Edition)
ausgeliehen, waren es 1942 rund 230 000. Das nächtliche Ausgehverbot wurde weniger denn je übertreten, die Menschen wollten ihre Ruhe, keinen Ärger. Träumerische Ablenkung weit fort in den Süden bot der Lieblingsschlager dieses Sommers: »Oh sonniges Madeira, Land der Liebe und der Sonne, ich wollte, ich könnte zusammen mit Dir dorthin reisen.« Als Anfang September zum Nationalen Sängerfest rund 4000 Sänger und Sängerinnen mit 200 Musikanten auf dem Dam auftraten, waren die Amsterdamer begeistert.
Am 24. September 1942 schreibt Hanns Albin Rauter dem Reichsführer SS Heinrich Himmler, oberster Chef aller Konzentrationslager, einen »Zwischenbericht über die Abschiebung der Juden« in den besetzten Niederlanden: »Bis jetzt haben wir mit den strafweise nach Mauthausen abgeschobenen Juden zusammen 20 000 Juden nach Auschwitz in Marsch gesetzt. In ganz Holland kommen ungefähr 120 000 Juden zur Abschiebung …« In Berlin notiert Himmler »sehr gut« unter das Schreiben.
Am 1. September hatte Adele Halberstam in ihren Briefen vom Besuch bei einer befreundeten Familie berichtet, deren zwei Kinder Marianne und Franz Lehmann, noch keine zwanzig Jahre alt, zu den ersten Transporten Mitte Juli aufgerufen wurden, »und die Eltern haben noch keine Zeile erhalten, wissen überhaupt nicht, wo die Kinder sind«. Am 19. Oktober bittet sie ihre Tochter in Chile, einer gemeinsamen Bekannten mitzuteilen, dass man von deren Bruder »nichts mehr gehört habe, seit er von Drente weitergeschickt worden ist … Sicher ist er wohl in ein deutsches Arbeitslager gekommen«. Mit Drente war das Lager Westerbork gemeint, das in der gleichnamigen Provinz lag. Als die Briefe geschrieben wurden, waren Franz und Marianne Lehmann und der besagte Bruder schon längst tot, ermordet im KZ Auschwitz-Birkenau.
Wie von einem schwarzen Loch verschluckt schienen die Menschen, die im Amsterdamer Hauptbahnhof in die Züge gezwungen und vom Lager Westerbork aus nach Osten transportiert wurden, Männer und Frauen, Kinder und Kranke, Jugendliche und Alte. Mitte August hatte der Jüdische Rat fünf Tage lang alle erreichbaren Landkarten unter die Lupe genommen, bis er schließlich den Ort »Birkenau« ausfindig machte. Von dort, aus »Oberschlesien«, waren 52 Karten angekommen, Absender: Amsterdamer Juden, die deportiert worden waren. Alle enthielten in unpersönlichen Kurzmeldungen die gleiche Botschaft: die Arbeit sei »hart, aber erträglich«, das Essen »angemessen«, die Unterbringung »gut«, die allgemeine Behandlung »korrekt«. Ein Hohn auf die menschenunwürdigen Umstände, unter denen Menschen in den Baracken von Auschwitz-Birkenau vegetieren und in Außenlagern Zwangsarbeit verrichten mussten – wenn sie nicht längst ins Gas getrieben waren.
Die Amsterdamer Auschwitz-Häftlinge hatten die 52 Karten auf Befehl geschrieben. Nach ihnen erreichte kein Wort mehr den Jüdischen Rat, der dennoch darauf bestand, diese Karten als positives Zeichen zu sehen: 52 zu einem Zeitpunkt, als schon über 4000 Amsterdamer Juden zum angeblichen »Arbeitsdienst« in Deutschland gezwungen waren. Aus den Briefen von Adele Halberstam spricht die Erbitterung der jüdischen Gemeinde, in ihrer Not von den eigenen Leuten allein gelassen zu werden.
Kritische Anfragen aus der Gemeinde forderten immer heftiger, dass der Jüdische Rat sich jeder Zusammenarbeit mit den Besatzern verweigerte, um nicht indirekt die Deportationen zu stützen. Bei einer Sitzung Mitte September lehnte der Jüdische Rat eine solche Verweigerungshaltung ab. Die Führer seien »verpflichtet, auf ihren Posten zu bleiben« und weiter »moralische und praktische Hilfe« zu leisten. Laut Protokoll verteidigte er auch die »Freistellungen« vom Transport, die er für seine Mitarbeiter ausschrieb. Es ginge darum, »wenigstens die wichtigsten Leute so lange als möglich hier zu halten«.
Am Ende des Protokolls wird fast wie nebenbei vermerkt, der Rat habe den ersten Bericht »von einem Todesfall in Auswitz« zur Kenntnis genommen. Ein Todesfall – dabei waren Mitte September 1942 mindestens 10 000 Juden aus Amsterdam elendig in jenem KZ ermordet worden, dessen Namen der Jüdische Rat zu Amsterdam nicht einmal korrekt zu schreiben wusste.
In seinem Brief vom 24. September hatte Hanns Albin Rauter dem Reichsführer SS für Anfang Oktober einen Überraschungscoup angekündigt. Alle männlichen Juden, die man seit Jahresanfang in niederländische Arbeitslager befohlen hatte,
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