Lehmann, Christine
Schurkenstaaten auf polnischem und tschechischem Boden zu stationi e ren. Und wie gebannt starrten die Bewohner des Habitats auf den Bildschirm im Schatten der Sonnenblenden, auf dem ein vom GSOC, dem Kontrollzentrum in Oberpfa f fenhofen , heraufgeschickter Zusammenschnitt diverser Nachrichtensendungen lief. China gab einen Großauftrag an ein europäisches Konsortium bekannt: fünf Ato m kraftwerke und zwei Fusionsreaktoren. Denn in absehb a rer Zeit würde man auf dem Mond Helium-3 industriell abbauen.
Die Ingenieure lachten. »Die meinen uns!«
Das war die Reise unseres Ministerpräsidenten mit Gunter Mau cher in der Delegation, fiel mir ein. Die E r de hat dich wieder!
»Schau dir das an«, wisperte mir Wim Wathelet hi n ters Ohr. »Wie sie dasitzen. Wie die Kinder, wenn das Sandmännchen kommt. Oder wie die Affen. Weißt du, Schimpansen, denen man Bilder von Affenhintern zeigt, lassen dafür sogar den Kirschsaft stehen.«
Ich drehte mich um. »Wim, was ich vorhin schon fr a gen wollte: Hast du heute schon versucht, mich umz u bringen?«
Der belgische Arzt zog die Brauen hoch.
Die französischen Nachrichten zeigten den Zaun von Heiligendamm und meldeten, dass ein Gericht während des G8-Gipfels Demonstrationen von Globalisierung s gegnern verboten habe. Der Kindergarten hatte sich nicht wirklich weitergedreht in den paar Tagen meiner Abw e senheit dort drüben auf der blauen Marmorhalbkugel, die knapp über dem anthrazitfarbenen Horizont stand, über Kopf, mit dem Südpol nach oben und so klein, dass man sie mit dem Daumen verdecken konnte. Sie würde immer an derselben Stelle überm Horizont stehen, während sie sich samt Wolken, Ozeanen, Kontinenten und Kinderga r ten um sich selbst und die Sonne drehte und wir um sie kreisten.
»Übrigens«, sagte Wim Wathelet, »Leslie Butcher e r wartet dich unten.« Er nickte Richtung Treppe, an der die israelische Neurologin stand und mich herbeiwinkte.
Ich erhob mich gegen alle Schwerkraft eines eing e schlafenen Kreislaufs und folgte Zippora Eschkols schweren Hüften. Die Treppen des spinalen Treppenha u ses sangen unter unseren Tritten. Rundum brummten, rauschten und blinkten im weißgrauen Computereinerlei die Apparate und Messgeräte der Lebenserhaltungssy s teme, die mit ihren Tanks und Aufbereitern in die unte r lunare Tiefe gebaut waren.
Der Kommandant hatte im dritten Sub mit der Ko m mandozentrale so etwas wie ein eigenes Büro. Es befand sich in einem Eckchen hinter Gerätewänden und enthielt einen Tisch, auf dem die US-Flagge stand. Für die Co m puterkonsole der Assistentin, HF-Ingenieurin Tamara, war eigentlich kein Platz mehr. Sie saß halb unter einen Feuerlöscher geduckt, als Zippora und ich eintraten.
»Uns liegt die Antwort auf unsere Anfrage ans Ko n trollzentrum vor«, eröffnete Butcher. »Im Datenblatt des EAC steht: Dr. Michel Ardan, Kreuzchen bei male , nicht bei female .«
»Immer schwierig bei Cyborgs mit den Kreuzchen«, sagte ich.
Der Tic unter seinem linken Auge zappelte. Butchers Augen waren so grau wie die Einbauschränke und Co m puterverkleidungen, die uns umgaben, Erschöpfung hing ihm von den Backenknochen und ballte sich in den Kaumuskeln zu grimmiger Beißkraft.
»Es ist jedenfalls nicht unsere Schuld!«, plapperte Tamara sich fehlerfrei. »Selbstverständlich werden wir dir ein anderes Quartier zuteilen. In unserer Frauen-WG im ESA-Modul ist noch eine Koje frei.«
»Und der Rest, stimmt der?« Butcher räusperte sich. »39 Jahre, Nationalität: Franzose, gebürtig in Marseille, Studium an der Sorbonne, Bioinformatik, Veröffentl i chungen über Schwarmintelligenz und Ameisenalgo rit h men, zwei Jahre Südamerikakorrespondent für Le Monde, unverheiratet, keine Kinder.« Er runzelte die Stirn. »Ve r schwörungstheoretiker, Friedensaktivist.« Der Komma n dant blickte mich an und zwängte ein Lächeln unter die Backen. »Wenn die Bemerkung gestattet ist: Kein Volk auf der Erde ist so friedliebend wie das am e rikanische.«
»Ohne Zweifel«, sagte ich.
Zippora Eschkol runzelte die Stirn.
»Also, was ist mit den biografischen Daten?«, hakte Leslie Butcher nach. »Zutreffend oder nicht?«
»Ich bin nicht verheiratet und habe keine Kinder. Und ich bin Journalist.« Kurios, geradezu bewusstseinsä n dernd, diese Sprache, die kaum weibliche Endungen kannte, genauso wenig wie den Unterschied zwischen Respekt-Sie und Vertraulichkeits-Du. »Und was diese fucking Ameisen betrifft, das kriegen wir schon hin.«
Butcher
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