Lehmann, Christine
Kindern, das Ihr Mann mitgenommen hat, was war das für eines?«, fragte R i chard. »Haben Sie eine Kopie davon?«
Sie überlegte. »Unsere Bilder haben sich alle auf Tor s tens Computer befunden. Und der ist gestohlen worden. Aber ich glaube, ich hatte das Bild meinen Eltern g e mailt. Ich könnte sie anrufen und fragen.«
»Wenn das ginge.«
»Und ich habe noch ganz viele Autos«, sagte Luca, »willst du sie sehen, Herr Weber?«
»Ja, zeig mal!«
Die Mädchen ahnten, dass ihre Barbies und Wuschel den Mann nicht interessieren würden, und trösteten sich mit Cipión , der seine Streichelgeduld gerecht verteilte.
Ich kramte noch ein bisschen in Torstens Schrei b tischumgebung und begab mich dann die Treppe hinu n ter.
Susanne hatte eben den Telefonhörer aufgelegt. »Der Opa kommt gleich mal schnell herunter – sie haben ihr Haus auf der Berger Höhe – und bringt das Foto.« Plöt z lich, ohne Vorwarnung, stürzten ihr die Tränen aus den großen Augen und kullerten die Backen hinunter. »En t schuldigen Sie.« Sie wischte mit dem Handrücken Tr ä nen weg, die unaufhörlich nachströmten. »Ich komme Ihnen wahrscheinlich bescheuert vor …«
»Nein, gar nicht. Sie haben Ihren Mann verloren.«
»Ich hätte ihn sowieso verloren.« Ein gewaltiges Schluchzen ließ ihren massigen Busen springen. »Er hä t te nicht wieder bei uns gelebt, bei den Kindern und mir. Er hatte seine Mondgöttin gefunden, hat er mir geschri e ben. Per E-Mail.«
»Wollte er oben bleiben?«
Susannes tropfige Augen schauten mich groß an. »Ich meine, er … er hat sich verliebt!«
»Ja, aber in wen? Artemis ist zum Beispiel schon mal eine Mondgöttin.«
Susanne schüttelte langsam den Kopf. »Ich weiß nicht, in wen.«
27
»Doch eine Abendröte gab es nicht. Stattdessen erblic k ten wir auf den Bergen und erhöhten Stellen der Umg e bung den Widerschein der Sonne, der stundenlang a n dauerte.« Auf dem Monde, Konstantin Ziolkowski, 1893
Die Speicherkarte mit der Scharte im Aufkleber mus s te ich gestern Nacht beim Ausziehen verloren haben. Ich startete die Suche im Mädchenpensionat: Boden, Ecken, unter den Kojen. Nichts. Vielleicht hatte sie eine aufg e hoben und zu ihren Sachen gelegt. Ich fingerte mich durch Yanqius Cremetöpfchen, Rhiannas iPod und Kopfhörer, Gails Nagellack, der gewiss nicht unbrennbar war, Tamaras Büstenhalter, Zipporas Schminksäckchen . Tampons hatten alle dabei. Gut zu wissen. Aber Torstens schwarzrote Flashcard zeigte sich nicht. Sie steckte auch nicht in den Digitalkameras, PDAs oder Laptops. Ja, Scheiße!
Aber wenn ich schon dabei war, dann ab ins japan i sche Modul.
Dort, wo Tamara mich zunächst einquartiert hatte, schliefen Nguyen Van Sung, Tupac Vaizaga und Morten Jörgensson. Es war auch das Quartier von Torsten Veith gewesen. Koje 3, hatte Luca gesagt.
Ich schaute wieder jedem ins Fach und fasste zw i schen die Wäsche. Gewaschen wurde hier nichts. Die Wäsche wurde nach Gebrauch der Kompostierung übe r geben, genauso wie unsere Anzüge. Männer trugen ihren Anzug zuweilen mehrere Monate, wie mir Gail gestern Nacht mit ekelkrauser Stimme erzählt hatte. David zum Beispiel. Frauen betrachteten ihn dagegen gern schon nach zwei Tagen als verschwitzt und versifft, waren aber angehalten, ihn noch mindestens eine Woche zu tragen. Igitt!
Morten Jörgensson hatte in seinem Kulturbeutel einen Rasierapparat mit Bartschneider und wie die Damen ein Spiegelchen. In Van Sungs Fach lag ein Büchlein mit unleserlichen Schriftzeichen. Tupac hütete ein Beute l chen mit Rinde, Feder, grünen Kaffeebohnen und einem Döschen schwarzen Pulvers. Ich fuhr mit der Hand unter den Matratzen entlang. Im Grunde kamen immer alle auf die gleichen Verstecke, von denen sie annahmen, dass keiner draufkommen würde: Schlüssel unterm Blume n topf, Sparbücher in der Bibel, Geld in der Kaffeedose.
In der Koje Nummer 3 links neben dem Bullauge sti e ßen meine Finger auf einen kleinen Widerstand. In der Montageritze zwischen Bettrahmen und Wand steckte … nein, nicht die Speicherkarte, aber ein Papier. Mit spitzen Fingernägeln zog ich es heraus. Es war ein Foto aus e i genartig festem Material und zeigte drei Kinder – Juana, Diana und Luca – im Allgäuschnee inmitten von Ni r gendwo an einem aus Feldsteinen gemauerten meterh o hen Denkmal mit einem großen vom Steinmetz geglätt e ten Z darauf.
Auch Richard hatte gestutzt, als er das Foto von S u sannes Vater ausgehändigt bekommen hatte. Es war einer der
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