Lehmann, Christine
die von Giovanni. Computer sind Chaossysteme, Lady Cyborg! Stöpselt man am einen E n de was dran, verspult sich das andere. David tut nur so, als wüsste er, was sein Zeus gerade macht. Ja, die russ i sche Technik, die konnte man mit einem Messer und e i nem Draht reparieren, aber die europäische hier … kompl i ziert und empfindlich.« Morten stand auf und legte die Feile in seinen Kulturbeutel zurück. »Dann will ich dich mal nicht länger bei deiner Suche stören. Hast du schon Van Sungs Buch gesehen?«
»Ich kann kein Koreanisch.«
»Es sind chinesische Schriftzeichen. Die Sutren Buddhas, Auszüge aus dem Tripitaka Koreana, dem buddhistischen Kanon der Goryeo-Zeit. Tripitaka heißt Dreikorb.«
»Ich dachte immer, im Astrautengepäck dürfe sich nichts Brennbares befinden.« Es hörte sich ziemlich deutsch an, was ich sagte, dieses Pochen auf Einhalten der Vo r schriften. Aber der Däne hatte es nicht gehört, denn er hielt mich für einen französischen Cyborg.
»Alter Hut. Früher hat man das Papier mit Alumini u m kaliumsulfat imprägniert«, antwortete er. »Die Eur o päer machen das immer noch ganz brav. Aber die Ru s sen, die haben schon bald gemerkt, dass man auf Papier mit Ble i stift nicht schreiben kann, wenn man es imprägniert. Se r gei hat übrigens ein Tagebuch dabei. Er schreibt russisch. Ich habe drei Jahre lang Russisch gelernt, als ich noch dachte, ich würde mit den Russen hier herau f fliegen.«
»Und was schreibt Sergei so?«
»Er weint über die Wunden, die wir in den Mond schlagen. Dass wir ihm die Poesie nehmen. Aber noch mehr betrübt ihn die Tatsache, dass seine Frau ihn ve r las sen hat. Schade, dass du kein Russisch kannst, Lady Cy borg. Neugierig wie du bist, würde dir Sergeis Tag e buch bestimmt gefallen.« Lachend verließ er das Qua r tier.
Am nächsten Modul klebte der blaue Kreis mit dem roten Pfeil von Roskosmos. Es beherbergte den Polen Krzysztof Skarga, den Kasachen Sergei Kascheschkin mit seinem Tagebuch, den Petersburger Touristen Pjotr Turenkow und den russischen Oberst Artjom Pilinenko. Der Pole hatte, wie ich im Licht des halboffenen Bulla u ges gerade noch rechtzeitig bemerkte, sein Fach mit e i nem Haar gesichert, das er vermutlich mit Spucke über Tür und Rahmen geklebt hatte. Es hinderte niemanden, die Tür zu öffnen, aber er würde es hinterher wissen. Ich merkte mir, wo das Haar geklebt hatte. Sein Fach enthielt nichts, was auf den ersten Blick eine solche Geheimni s krämerei notwendig gemacht hätte: Wäsche, Rasierzeug, eine Kamera, einen Laptop, eine Schachtel mit Speiche r karten, unter denen sich keine mit Scharte im Aufkleber befand, und eine Bibel. Ich klebte das Haar mit meiner Spucke wieder hin und wunderte mich, dass so viele As t ronauten ihren metaphysischen Beistand auf Papier mitgebracht hatten. Digitalisierte Fibeln hätten weniger g e wogen.
Was für ein Buch hätte ich auf meine einsame Insel mitgenommen? Etwas Dickes, was ich immer schon mal hatte lesen wollen und auf einer Insel auch nicht lesen würde: Das Kapital von Marx oder Prousts Auf der S u che nach der verlorenen Zeit, die egomanische Reflexion einer Eifersucht, an deren Ende eine Frau starb. Oder Homers Odyssee , Ulysses von James Joyce. Oder ließ sich bei gründlicherem Nachdenken eine Frau finden, die mir humanistische Meditationsnahrung für ein halbes Jahr Insel liefern würde? Das andere Geschlecht von Simone de Beauvoir oder Hannah Arendts Bericht von der Banalität des Bösen 7 . Aber was interessierte mich die Welt, wenn es mich aus ihr hinaus verschlagen hatte? Im Grunde lief es immer auf die Bibel hinaus oder auf den Koran, die Veden oder ein Tripitaka. Menschheitsalt musste ein Inselbuch sein. Unser Gehirn hatte sich seit der Steinzeit ja nicht groß weiterentwickelt. Eifersucht, Futterneid und Fremdenhass waren immer noch die tre i benden Gefühle, die wir im Weltall mit Intergouver n mental Agreements of Conduct in Schach hielten.
Die anderen drei Module waren amerikanisch. Gleich neben dem russischen waren David Hirsch, die Stimme von Radio High Moon , Kommandant Leslie Butcher und der Arzt Wim Wathelet untergebracht. Wenn die beiden es mit Davids Aura aushielten, hatte der Mondüberdruck in ihren Schädeln längst alle Riechröhren verstopft. Die Fächer waren im Unterschied zu denen aller anderen mit Öffnercodetastaturen und Digireads versehen. Auf dem Tisch unter dem offenen Bullauge lag nichts herum.
Im nächsten Modul hausten der Mailänder
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