Lehmann, Christine
keine äußeren Verletzungen. Keine Ze i chen äußerer Gewalteinwirkung, keine Hinweise auf E r würgen oder Erdrosseln. Hals und Luftröhre sind frei. Keine Hinweise auf eine Zyanose, also eine Unterverso r gung mit Sauerstoff. Die Pupillen sind gleich groß, kein Hinweis auf ein Schädel-Hirn-Trauma, eine Hirnblutung oder einen einseitigen Schlaganfall.«
Der Geruch nach warmen menschlichen Sekreten hatte den winzigen Operationsraum bis in den letzten Winkel getränkt.
»Keine Totenflecken sichtbar. Das Blut sickert hier nicht so schnell nach unten wie auf der Erde. Rigor mo r tis noch nicht eingetreten. Rektaltemperatur 35,2 Grad, bei einer Raumtemperatur von 22,4 Grad Celsius. Tode s zeitpunkt schätzungsweise vor über einer Stunde und unter zwei Stunden.« Er blickte auf seine Uhr. »Also zwischen UTC elf und zwölf.«
»Gegen zehn Uhr habe ich ihn bei einer Meditation angetroffen«, bemerkte ich.
Dr. Wathelet blickte auf. »Es soll ja Brahmanen g e ben, die sich in eine Art Todeszustand versetzen können, S a madhi heißt das bei denen. Eine totale Vereinigung mit dem Göttlichen. Man sagt, dass der Körper eines Me n schen im Samadhi über Jahre, wenn nicht Jahrtausende erhalten bleibt, als Untoter gewissermaßen.« Er lachte. »Kryptobiose nennen das die Biologen. Die Bärtierchen, die die Uni Stuttgart heraufgeschickt hat, sind Meister da r in.«
Pilinenko räusperte sich ungeduldig.
Wim ließ die linke Braue springen und wandte sich wieder dem Toten zu. »Eine Darmentleerung hat nicht stattgefunden, die Blase hat sich entleert. Und was h a ben wir hier?« Er hatte den linken Arm der Leiche g e hoben und musterte die Unterseite. »Sieht nach Mü cke n stich aus. Oder nach dem Giftstich einer Knotename i se.«
»Ein allergischer Schock?«, fragte Artjom Pilinenko.
Wim hob die Augen. »Ich werde sein Blut auf IgE-Antikörper untersuchen. Aber ein allergischer Schock sieht anders aus. So ist beispielsweise keine Flüssigkeit aus den Blutgefäßen ins Gewebe ausgetreten.« Er griff hinter sich nach dem Skalpell und blickte herausfordernd in die Runde. »Jetzt sind starke Nerven gefragt.« Er set z te das Messer am Brustbein an.
Ich beugte mich vor und wappnete mich gegen den eigenartig friedlichen und zugleich alarmierenden G e ruch nach Schlachttier, der aus den Eingeweiden aufste i gen würde. Und gegen den nach Latrine, wenn es blöd lief. Der belgische Doktor blickte mich über die reglos eing e sackte Bauchdecke des Inders und über sein Messer hi n weg an und raunte auf Französisch: »Was hast du vorhin damit gemeint, du seist schon tot?«
»Die Nasszelle im Biolab hat gestern versucht, mich zu den Klängen der Pekingoper zu ersticken.«
»Ach, das war doch nur eine dieser technischen Pa n nen, von der immer alle sagen, dass sie nicht vorkommen können.«
»Oder«, wisperte ich, »die Mondgöttin zieht die ewige Einsamkeit unserer Gesellschaft vor und will uns vertre i ben.«
»Komisch, diese Angst wird man nie ganz los, die Angst vor Marsmenschen, kosmischen Viren, intellige n ten Planeten.«
Pilinenko knurrte unwirsch.
Das väterlich-spöttische Lächeln zuckte um Wims Mundwinkel. »Dann mache ich jetzt den Schnitt.«
Er drückte die Spitze des Skalpells unters Brustbein, hielt aber inne, bevor die Haut aufplatzte, und hob das Messer sachte wieder von dem grauen Leib. Er blickte mich und dann Pilinenko an und senkte Hand und Me s ser.
Nur der asthmatische Atem der Artemis war zu hören.
»Ich schlage vor«, sagte der Arzt, »dass wir den Kö r per intakt lassen.« Seine Stimme klang dünn. »Wer weiß, ob die Inder Obduktionen nicht als Verstoß gegen ihre Religion, die Totenruhe oder sonstige Gebräuche b e trachten. Wir schaffen ihn mit STS-213 runter, dann so l len die unten entscheiden. Ich ziehe nur Blut für die chemische Analyse. Einverstanden, Artjom?«
Auf Pilinenkos Gesicht glänzte fast so etwas wie E r leichterung. »Einverstanden.«
Hinter sich aus der Schublade zog Wim ein Operat i onstuch, das er über den Toten breitete. »Bericht ist fe r tig, bis wir uns in zwei Stunden in der Cupola treffen.« Der Belgier fuhr sich übers schüttere Haar.
»Was ist los?«, flüsterte ich auf Französisch. »Stimmt was nicht mit der Leiche?«
»Komm!«, raunzte Oberst Pilinenko. »Wim hat zu tun!«
»Aber!«
»Das ist ein Befehl, Miss!«
»Die Presse lässt sich nichts befehlen!«
Wim schüttelte beschwichtigend den Kopf und formte mit den Lippen Worte. Zuweilen war ich
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