Lehmann, Christine
sensibel genug, die Notwendigkeit meines Rückzugs zu akzeptieren. Vielleicht war ich auch nur mürbe genug. Kaum waren wir draußen, spülte mein Hirn den Sinn von Wims stimmlos geformten Lauten in meinen Verstand: »II n ’ est pas mort!« Er ist nicht tot.
34
»Mir scheint, für ein Mädchen gehörte nicht weniger Mut zu der Fahrt nach dem Monde als für den Mann Ody s seus zu der Hadesfahrt.« Frau im Mond, Thea von Ha r bou, 1928
Unmissverständlich machte mir Oberst Pilinenko klar, dass der Platz der Presse in den nächsten Stunden oben in der Cupola war. Ich gab mich gehorsam und trollte mich.
Die Übriggebliebenen und Überflüssigen – Pjotr T u renkow aus Petersburg, Mohamed bin Salman al- Sibarai ’ I aus Saudi-Arabien, Eclipse van Wijk, der farbige Di a mantenhändler aus Südafrika, und Franco Llacer, der Europaabgeordnete aus Barcelona – saßen an einem Tisch beim Kaffee und erzählten sich unterirdische Wi t ze.
»Was schoss dem Challenger-Piloten als Letztes durch den Kopf?«, fragte Eclipse. »Der Steuerknüppel.«
Franco fiel fast vom Stuhl vor Lachen.
Der seltsame Kontrast von Nacht und Tageshelle auf der farblos grauen Wüste rundum ließ keine heimischen Gefühle aufkommen, auch wenn die Verkehrsschilder, Fahrzeuge, Reifenspuren und Gebäude menscheng e macht aussahen. Die Schutzplatten auf der Sonnenseite waren so weit gewandert, dass ich zum ersten Mal einen Blick auf die langgestreckte Glaskuppel der Biosphäre werfen konnte. Auch das smaragdgrüne Paradies verwe i gerte die Farben der Erde, denn ihr Wasserspiegel war pechschwarz.
Eine Atmosphäre würde der Mond nie haben, aber wenn man ihn mit luftgefüllten Kuppeln und Verbi n dungsröhren überdeckte und darin die alte Erde wiede r erweckte, hätte man irgendwann auch hier eine funkt i onstüchtige Welt mit spielenden Kindern, Politik und Ausbeutung. Und von der Erde aus würden wir nachts auf den dunklen Teilen des Mondes die Lichter der Stä d te sehen.
Ich ließ Kaffee aus dem Automaten zischen und wan d te mich dem desolaten Tisch zu. »Darf ich?«
»Aber bitte, gerne«, antwortete Pjotr und wischte sich die Lachtränen aus den Augen. »Haben sie dich auch weggeschickt? Hätte ich doch was Anständiges gelernt.«
Ich holte einen fünften Stuhl. Franco rückte unbeha g lich von mir weg. Seit er wusste, dass ich ein Cyborg war, schaute er mich nicht mehr an. Ich konnte es dem delikaten Kenner der Frauenärsche auf der blauen Ma r morkugel nicht einmal verübeln.
»Puta madre!«, stieß er hervor. »Bin ich froh, wenn es wieder runter geht! Für Wissenschaftler mag das alles ja ganz interessant sein.«
»Wenn du erst draußen warst, redest du anders!«, sa g te Eclipse. »Vergiss nicht, dich fotografieren zu lassen. Dein Gesicht erkennt zwar keiner im Helm, damit kannst du daheim nicht punkten, aber du weißt, dass du wirklich deine Füße im Mondstaub gehabt hast. Nicht wahr, M o hamed?«
Der Saudi nickte würdevoll.
»Ich weiß nicht«, nörgelte Franco. »Es ist doch sicher nicht viel anders als in der Wüste.«
»Hätte man nicht gedacht«, bemerkte Eclipse mit se i nem harten südafrikanischen Akzent, »dass der indische Brahmane so einen Schiss vor seinem Ausflug gehabt hat.« Er lachte auf. »Er hat ununterbrochen meditiert. Ich me i ne, er war ein gebildeter Mann, hat in England st u diert, eine der größten Softwarefirmen hat ihm gehört. Er war bel e sen, Hemingway, Goethe. Und nun soll er den Mond b e treten und von Mondgöttin Bhrkuti den Dre i stock des Brahmanen, welcher der Welt entsagt hat, entgegenne h men, und ihn packt die Angst vor der menschl i chen Vermessenheit. Er fühlt sich dessen nicht würdig und meditiert sich zu Tode.«
»Wir im Westen haben keine Mythen mehr«, seufzte Franco.
Ich schaltete mein Gehör auf Autopilot. Der Kaffee war heiß. Der Katalane vertrat die Ansicht, dass Rakeshs Ehefrau zusammen mit dem Leichnam ihres Mannes verbrannt würde. Als man es ihm ausredete, beharrte er darauf, dass in Indien die Mädchen gleich nach der G e burt getötet würden. In Bangladesch schütteten eifersüc h tige junge Männer den Mädchen Batteriesäure ins G e sicht, und im Iran steinige man die Mädchen, wenn ihnen der Schleier verrutsche.
Mohamed bin Salman al-Sibarai ’ I erklärte, der Islam sei traditionell eine tolerante und friedliebende Religion.
»Ach ja?«, sagte Franco. »Bei euch in Saudi-Arabien dürfen Frauen doch noch nicht einmal ein Auto lenken!«
Mohamed zog
Weitere Kostenlose Bücher