Leidenschaft der Nacht - 4
zu reisen, wäre es nie zu Rosemarys Tod gekommen, und James würde nicht festgehalten, damit sie ihn gegen den Mann eintauschte, der für Olivias Zustand verantwortlich war.
War es unfair von ihr, Reign für so vieles die Schuld zu geben? Wahrscheinlich.
Nahm ihre Wut ab, weil sie es zugab? Kein bisschen.
Seit zwanzig Minuten war er fort, und noch deutete das Morgengrauen sich nicht einmal an. Sie hatte Zeit, hinauszugehen und sich zu nähren - »zu jagen«, wie Reign es gern ausdrückte. Sie ergänzte die Liste der Eigenschaften ihres Ehemannes um herzlos.
Trotzdem konnte sie ihre eigenen Taten schwerlich als etwas anderes ausgeben.
Schnell und möglichst unauffällig verließ sie das Hotel. Sie vermied es tunlichst, dass die Leute sie sahen, denn gewiss würden sie sich wundern, sie um diese Stunde ausgehen zu sehen, mit zerzaustem Haar und blutverschmiertem Schulterumhang.
Aber wo sie hinging, scherte niemanden ihr Äußeres -oder vielmehr: Wenn sie die Person fand, die sie suchte, würde es diese nicht scheren.
Der Club in der St. James’s Street war keine Meile vom Claridge’s entfernt. Olivia raffte die Röcke und hüpfte über die Dächer, bevor sie Minuten später auf der dunklen Straßenseite ankam. Reign hatte recht, was das Fliegen betraf, es war zu riskant.
Manchmal war Laufen einfacher.
Sie hockte auf dem Dach eines Clubs. Ob es White’s oder Boodle’s oder eine andere Bastion männlicher Zerstreuung war, wusste sie nicht, als drei betrunkene junge Männer heraustorkelten. Zwei von ihnen stiegen in eine wartende Kutsche. Der dritte ging an dem Gebäude vorbei. Offensichtlich wollte er das nächste Etablissement aufsuchen.
Leise wie eine Katze sprang Olivia hinter dem Club in den Schatten und wartete.
Kurz darauf erschien der junge Mann. Er war etwa vierundzwanzig Jahre alt, hatte dunkles Haar und ein rauhes Gesicht, das schön aussehen mochte, wenn er erst zu einem richtigen Mann herangewachsen war. Über dieses Detail konnte sie hinwegsehen. Es war seine Haltung, die sie anlockte. Er hatte die Art Präsenz, die Aufmerksamkeit auf sich zog, eine stille Kraft, die Olivia ansprach. ja, er war selbstbewusst, vielleicht sogar arrogant, dieser Bursche. Oh ja, er war genau richtig!
Als sie näher kam, sah er auf. Seine hellgrünen Augen weiteten sich bei ihrem Anblick. Schließlich waren sie in der St. James’s Street und Damen in dieser seit eh und je männerdominierten Gegend nicht sonderlich willkommen.
»Haben Sie sich verirrt, Madam?«, fragte er. Oh ja, er war allemal genau richtig!
Eine hübsche tiefe Stimme - nicht ganz so raspelnd, wie sie es gern hatte, aber dennoch köstlich.
»Nein«, antwortete sie und strich ihm mit einer Hand über den Arm. Sie konnte die festen Muskeln unter dem dunklen Stoff seines Mantels fühlen. »Ich habe gefunden, was ich suchte.«
Es war nicht richtig, dass sie ihm nachstellte und mit ihm spielte. Aber momentan dachte sie nicht als Person. Ihr Hunger, ihre Wut und ihre Lust lenkten sie. Sie jagte mit der ganzen Schande, die übernahm, wenn sie sich auf die Suche nach einem Mann begab, der ihren Vorgaben entsprach.
»Komm her!«, murmelte sie, während sie ihn sanft zu sich zog. Trunken und unsicher auf den Beinen, fiel er ihr entgegen. Olivia fing ihn auf und hielt ihn wie ein Kind fest. »Schließ die Augen!«
Grinsend befolgte er ihre Worte. »Willst du mich schänden?«
»Ja«, antwortete sie an den rauhen Stoppeln seines Halses. Der junge Mann stöhnte aufmunternd, als sie seine warme Haut mit ihrer Zungenspitze streifte. Nun handelte Olivia nur noch instinktiv. Ihre Reißzähne wurden länger, ihr lief das Wasser im Mund zusammen, und ihre Zunge kribbelte vor Vorfreude.
Er legte seine Arme um sie und umklammerte sie fester, als ihre Zähne sich in seinen Hals gruben. Hart, jung und heiß fühlte er sich an, und sie spürte jeden Pulsschlag seines Körpers in sich. Er schmeckte nach Jugend und Whisky. Genüsslich trank sie, nahm ihn in sich auf, ließ sich von der Süße in seinen Adern ausfüllen.
Als sie trank, schloss sie die Augen. Zum Glück war er ein Fremder, denn so konnte sie sich vorstellen, er wäre jemand anders.
Sie malte sich aus, er wäre Reign.
Reign war von Natur aus misstrauisch. Sein Misstrauen veranlasste ihn, einen Brief an Saint zu schreiben und für ihn zu hinterlegen. Gestern Abend hatte er ihn bei einem Hehler deponiert, mit dem der andere Vampir hin und wieder Geschäfte machte. Ezekiel wüsste sehr viel besser
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