Lemmings Himmelfahrt
Er muss etwas unternehmen, musste diese Frau auf andere Gedanken bringen. Das zweite Mal an diesem Tag fährt ihm ein stechender Schmerz durch den Kopf, als er versucht, sich aufzusetzen. Der Junge sieht als Erster, dass er aufgewacht ist.
«Schau, Mama, er lebt noch!»
«Gott sei Dank! Lauf schnell hinüber, Simon, hol den Onkel Dieter … Na, mach schon!»
Der Junge setzt sich in Bewegung und geht zur Tür. Während er sie öffnet, wirft er dem Lemming einen neugierigen Blick zu. Seine schlaksigen, betont coolen Bewegungen und seine hellen Korkenzieherlocken deuten darauf hin, dass er, obwohl für dieses Alter ziemlich groß gewachsen, nicht älter als fünfzehn ist.
«Wie geht es Ihnen?» Die Frau tritt an das Bett des Lemming und mustert ihn sorgenvoll.
«Danke, gut», lügt der Lemming. «Und Ihnen?»
«Ich …» Sie blickt verwirrt. «Ich weiß nicht … Nicht so gut. Ich weiß nicht so recht, was ich sagen soll. Es tut mir furchtbar Leid wegen vorhin …»
Jetzt nur nicht umfallen, Lemming. Jetzt keinen Fehler machen, und wenn sie dich noch so traurig ansieht mit ihren dunklen, warmen Augen: Stelle die Rücksicht zurück und gib einmal der Vorsicht den Vorzug …
Er konzentriert sich. Es kostet ihn einige Überwindung, aber schließlich tut er, was zu tun ist. Er starrt an ihr vorbei auf die Wand und meint mit ausdrucksloser Stimme:
«Wieso? Was meinen Sie?»
«Na der Unfall, vorhin im Wald …
Ich
war es, die den Wagen gesteuert hat …»
«Ah, ja …» Er führt die Hand zum Mund. Beginnt, mit Daumen und Zeigefinger seine Unterlippe zu kneten. Fängt sich scheinbar wieder und blickt der Frau ins Gesicht. Ein schmales, gedankenvolles Gesicht, umrahmt von halblangen schwarzen Haaren, in denen die ersten grauen Strähnen schimmern.
«Wie heißen Sie?», versucht der Lemming das Thema zu wechseln.
«Stillmann. Rebekka Stillmann … Ich bin eigentlich hergekommen, um … Mein Mann. Er liegt da drüben, neben Ihnen. Er liegt schon lange da … sehr lange. Mein Sohn und ich, wissen Sie, wir besuchen ihn beinahe täglich … Sie können sich nicht erinnern, oder?»
«An Ihren Mann?»
»Nein, nein … An den Unfall.»
«Unfall …»
«Ja, vorhin im Wald.»
«Nein …»
Die Frau seufzt.
«Wie heißen Sie eigentlich?», fragt sie dann.
«Ich … Ich glaube … Warten Sie mal … Ich weiß es nicht …»
Rebekka Stillmann senkt den Kopf.
«Hören Sie … Ich denke, ich sollte doch besser die Polizei verständigen …»
«Polizei? Wozu? Es geht mir blendend», entgegnet der Lemming rasch. «Ich brauche nur ein wenig Ruhe … Im Übrigen»,und er senkt seine Stimme zum betont vertraulichen Flüsterton, «im Übrigen verspreche ich Ihnen: Von mir erfährt niemand, was geschehen ist …»
Ein irritierter Blick. Die Frau überlegt. Schöpft Hoffnung.
«Sie meinen … Es bleibt unter uns? Sie können sich wieder erinnern?»
«Genau», meint der Lemming mit dem Anflug eines Lächelns, «was auch immer Sie meinen, es bleibt unter uns …»
«Verstehe …» Sichtlich enttäuscht, versucht sie, sein Lächeln zu erwidern. «Wenigstens haben Sie Ihren Humor nicht verloren …»
Eine Zeit lang herrscht Stille zwischen ihnen.
«Was fehlt Ihrem Mann?», fragt der Lemming schließlich. «Er scheint sehr … schweigsam zu sein …»
«Schweigsam … Ja, das ist er wohl.» Rebekka Stillmann spricht mit einem Mal sehr leise, und ihre Worte klingen heiser, trocken wie das Salz längst geronnener Tränen. «Er kann nicht reden … Er kann sich auch nicht bewegen. Er ist vollkommen gelähmt …»
«Meine Güte … Das … Das tut mir Leid …»
«Man gewöhnt sich daran. Es ist siebzehn Jahre her, dass ich seine Stimme zum letzten Mal gehört habe.»
«Aber … Was ist geschehen, damals?»
«Nicht viel.» Rebekka Stillmann dreht den Kopf zur Seite, wirft einen kurzen Blick zum Bett ihres Mannes, betrachtet dann die Schattenspiele auf dem wehenden Vorhang. «Ein Schlaganfall … Er ist ins Koma gefallen, hat aber nach ein paar Wochen wieder die Augen geöffnet. Das war alles. Kein Wort, keine Geste, keinerlei Äußerung … Ich weiß schon,
nomen est omen
: Damals ist er wirklich zum stillen Mann geworden … Die Ärzte haben angenommen, dass er nach wie vor bewusstlos ist. Wachkoma – so nennen die das, wenn einer nichts von der Außenwelt mitbekommt, wenn einer keineSinne hat, keine
Weitere Kostenlose Bücher