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Lenas Tagebuch

Lenas Tagebuch

Titel: Lenas Tagebuch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lena Muchina
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kompaktes, weiches, frisches, wohlriechendes Stück Brot. Noch an diesem Abend aß ich die ganzen 300 g auf.
    Morgen werde ich kein Brot haben. Was soll’s, irgendwie werde ich klarkommen. Heute Abend feuert die ganze Zeit die Flak, von Zeit zu Zeit ist es ein solches Geknatter, einfach schrecklich.
    Irgendetwas wird morgen passieren!

21. April
    Heute Morgen war das Wetter wunderschön. Warm, plus 16 Grad im Schatten. Dann kamen Wolken auf, gegen Abend verfinsterte sich der Himmel, die Sonne verbarg sich, und es begann zu regnen. Ein feiner Sprühregen.
    Heute aß ich in der Kantine zwei Portionen Erbsensuppe mit Haferflocken und trank in der Teestube drei Gläser Tee. Ich weiß bloß nicht, ob ich Kefir auftreiben kann, gegen sieben Uhr werde ich zu Sofija gehen. Oho, der Regen traut sich aber was. Er fällt dicht, schräg, trommelt. Was ist das? Donner.
    Donner, es donnert. Hurra! Der erste Donner. Das erste Gewitter! Was für ein schöner Klang. Ein himmlischer Klang. Er ähnelt gar nicht der Kanonade der Flak oder dem Artilleriefeuer.
    Irgendwie ist mir leichter ums Herz geworden. Da habe ich also bis zum ersten Gewitter überlebt. Ein Gewitter, ein echtes Gewitter. Ich kann es kaum glauben.
    Ich möchte etwas so sehr. Nur was, das weiß ich selber nicht genau. Aber es soll etwas Schönes sein, etwas Besonderes. Bald, ganz bald schon soll endlich der Mai kommen. Ich möchte so sehr weg von hier, möglichst schnell wegfahren, ich möchte mich wenigstens einmal satt essen. Ich bin es so leid, ständig halb verhungert dahinzuvegetieren. Ich bin ja systematisch unterernährt, es ist jeden Tag zu wenig. Auch wenn ich jeden Gedanken an das Essen verdränge, so habe ich doch jeden Abend schrecklichen Hunger. Auch jetzt habe ich dieses nagende Gefühl im Magen, es nagt so sehr. Ich würde einfach alles essen.

    Ich ging zu Sofija, aber sie hatte keinen Kefir. Ich kaufte für 120 Rubel 300 g Brot, ging zum Katharinenplatz und aß, dort sitzend, fast das ganze Brot. Es blieb nur ein anständiges Stück übrig für morgen in der Teestube. Aber ich werde morgen auf keinen Fall wieder Brot im Voraus kaufen, egal, unter welchem Vorwand. Das muss ein für alle Mal aufhören. Ich gehe schlafen! Und so ist wieder ein Tag vorbei.
    [22. April]
    Heute ist mir so schwer ums Herz, so schwer. Ich weiß auch nicht, warum, Kummer nagt und zehrt an mir. Herrgott, ringsum sind alles fremde Leute, fremde, alle sind mir fremd, und kein Einziger steht mir nahe. Alle gehen gleichgültig vorbei, keiner will mich auch nur kennen. Keiner interessiert sich für mich. Jetzt ist Frühling, gestern war das erste Gewitter, und hier geht alles seinen Gang, und keiner außer mir bemerkt überhaupt, dass meine Mama nicht mehr da ist. Dieser schreckliche Winter hat sie mit sich genommen. Der Winter ist vorbei, er kehrt so bald nicht wieder, aber Mama kommt nie mehr zu mir zurück. Liebe, teure, geliebte Schenja, versteh bitte, wie schwer ich es habe.
    Ich schreibe diese Zeilen, während ich am weit geöffneten Fenster stehe. Ein warmer Windhauch streichelt mich, der Sonnenschein wärmt. Neben mir steht ein rundes Einmachglas mit Wasser. Die jungen Algentriebe schimmern grün darin, und viele kleine Wasserflöhe, Hüpferlinge und andere kleine Lebewesen schwimmen geschäftig umher. In einem Topf daneben steht stolz ein junger Erbsensprössling, der sich nach der Sonne richtet. Und wenn du ringsumher schaust … nein, auf der Welt lässt sich doch gut leben. Aber nur, wenn du auch satt bist. Ich hungere zwar nicht, aber ich bin auch nicht satt, und das ist ein noch schlimmerer Zustand. Ich bin ja systematisch unterernährt, es ist jeden Tag zu wenig, was für eine Quälerei. Herrgott, wenn nur einer von Mamas Bekannten in der Nähe wäre. Ich würde bloß um ein wenig Geld bitten. Mit Geld kann man immerhin ein bisschen Brot kaufen. O mein Gott.
    Wann werde ich meine Verwandten sehen? Wann werde ich mich endlich an einen gedeckten Tisch setzen können mit dem Gefühl, dass auch ich dazugehöre und keine Fremde bin, und mit den anderen gemeinsam essen und nicht nur zuschauen, wie sie essen?! Allmächtiger! Erweise mir eine solche Gnade. Gib, dass ich zu Schenja gelange und Lida, Serjoscha, Danja und Njura treffe 111 .
    Herr, tu dies! Ich bitte Dich!!

    Heute ist der 22. April. Bis zum Mai bleiben noch der 23., der 24., der 25., der 26., der 27., der 28., der 29. und der 30. Es bleiben noch acht Tage. Was für schwere Tage. Die schwersten meines ganzen

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